Freitag, 24. Oktober 2025

Mama&Sam - Sarah Kuttner

In diversen Fernseh-Formaten wurden sie schon aufgegriffen, wer in den sozialen Medien unterwegs ist, kennt sie ohnehin: Love-Scammer. Vermeintlich nette Menschen, die unschuldigen und naiven (meist weiblichen) Mitmenschen die große Liebe vorgaukeln, nach und nach Geld von ihnen erst erbitten, dann fordern und zuletzt durch Androhungen wie „sonst tue ich mir etwas an“ erpressen. Zuletzt lassen sie diese dann aus heiterem Himmel pleite und psychisch am Boden zurück. In „Mama & Sam“ spürt Sarah Kuttner so einem Scammer nach, denn er hat ihre Mutter belogen und um mehr als 100.000 Euro betrogen. Ihre Mutter kann sie nicht mehr fragen, denn diese starb, bevor sie irgendetwas aufklären konnte. Ein Buch, das nachdenklich und fassungslos macht.

Aber von vorn. Sarah Kuttners Mutter starb völlig überraschend, sie war allein zu Hause, als sie im Flur umfiel, ihre Leiche wurde erst entdeckt, als den Nachbarn der Geruch auffiel. Obwohl Sarah Kuttner das Erbe ausschlägt, kann sie einiges am Nachlass sichten. Sie hat Zugriff auf die Chatprotokolle ihrer Mutter, denn diese war auf einen Love-Scammer hereingefallen. Der hatte sich nicht irgendeine Identität zugelegt, er behauptete, er sei Sam Heughan, Schauspieler, Hauptdarsteller der Serie „Outlander“ und jemand, der bei Instagram vier Millionen Follower hat. Wer sich hinter der Fake-Identität verbarg, ist bis heute nicht geklärt. Fakt ist nur, dass er es nicht nur geschafft hat, die Mutter vollkommen von ihrer Schwester und ihrer Tochter zu entfremden, sondern auch, von der 68-Jährigen innerhalb von acht Monaten über 100.000 Euro zu ergaunern. Sarah Kuttner und ihrer Tante gelingt es nicht, ihrer Mutter klar zu machen, dass sich hinter dem vermeintlichen berühmten Schauspieler vermutlich mehrere Romance-Scammer aus afrikanischen Ländern, maßgeblich aus Westafrika, verbergen. Die Mutter blieb beratungsresistent. Eingesponnen in ein Netz aus Lügen, aufrechterhalten durch Chats, Mails und Videos, schickte „ihrem Samy“ unzählige Apple-Gutscheinkarten, nimmt für ihn einen Kredit auf und kündigt ihre Lebensversicherung. 

„Mama & Sam“ ist mein erstes Buch von Sarah Kuttner und, obwohl ich es wirklich gut fand, werde wohl kein Fan werden. Inhaltlich hat das Buch mich vollauf begeistert, aber ihre Sprache liegt mir nicht. Sie ist mir so forsch, zu flapsig und alles in allem etwas unstrukturiert (dafür kann die Autorin nichts, aber ihr ADHS und mein ADHS harmonieren nicht miteinander). Aber ihre Trauerbewältigung, gespickt mit Auszügen aus den Chats ihrer Mutter mit dem Scammer und ein paar Ausflügen in ihre Kindheit, hat mich tief berührt. Nicht zuletzt, weil meine Nachbarn in letzter Zeit mehrfach mit Schock-Anrufen zu tun hatten und ich selbst schon mit Scammern gechattet habe, ging mir das Buch sehr an die Nieren – ich habe mal wieder erkannt, wie viel Glück ich gehabt habe. 

Sehr hilfreich finde ich auch das Nachwort. Darin gibt die Autorin sehr gute Tipps für den Umgang mit Menschen, die auf Love-Scammer hereingefallen sind. Sie schildert, welche psychologischen Dynamiken dahinterstecken und wie abgebrüht die Täter sind. Sie zeigt auf, dass die Opfer eben das sind: Opfer. Dass sie nicht „blöd“ sind, sondern eventuell so einsam und liebesbedürftig, dass sie sogar in Kauf nehmen, betrogen zu werden. So schrieb Sarah Kuttners Mutter an ihren vermeintlichen Sam „,wenn das hier wirklich ein Betrug ist, dann habe ich zumindest für ein paar tausend Dollar in einem viertel Jahr mehr liebevolle Worte gehört als in meinen anderen Beziehungen“. 

Es ist ein Buch, das nachdenklich und betroffen macht. Das die Leserschaft dazu anhält, die Augen offen zu halten, sich zu engagieren und nicht entmutigen zu lassen. Viele von uns haben eine Mama oder einen Papa (auch Männer können Opfer werden), Onkels, Tanten oder gute Freunde, die auf skrupellose Betrüger im Internet hereinfallen können. Sie nicht aufzugeben, auch wenn sie beratungsresistent sind, das ist die große Kunst. Von mir gibt es für dieses Buch fünf Sterne.

Lügendorf - Eva Reichl

„Lügendorf“ ist mein erstes Buch von Eva Reichl und ich bin wirklich traurig, dass ich die beiden anderen Teile der Trilogie (noch) nicht kenne. So bin ich ohne Vorkenntnisse in den Krimi gestolpert und bin froh, dass die Autorin alle Wissenslücken gewissenhaft füllt und ich keine Verständnisprobleme hatte. So konnte mich „Lügendorf“ vollauf begeistern.

Aber von vorn.

Diana Heller hat sich in dem Dorf im Mühlviertel, in dem sie aufgewachsen ist, ein altes renovierungsbedürftiges Haus gekauft. Vorher hatte sie mit ihrem Mann auf dem elterlichen Hof gelebt. Nach dem Tod ihres Mannes (Thema im Krimi „Todesdorf“) hat ihr Bruder Alexander den Hof zusammen mit seinem Lebensgefährten Florian übernommen. Diana renoviert ihr neues Zuhause und auf einem Spaziergang trifft sie auf drei Kinder, die an einem Bachufer menschliche Knochen gefunden haben. Schnell wird klar, dass es sich bei dem Skelett um die vor 14 Jahren verschwundene Stefanie Sipenthaler handelt. Alle hatten geglaubt, Stefanie sei einfach nur weggelaufen, aber jetzt ist klar: sie wurde erschlagen, denn ihr Schädel weist schwere Brüche auf. Diana, Stefanie und Nora waren damals in einer Klasse und mehr oder weniger befreundet, hauptsächlich war Diana aber von Stefanie drangsaliert worden. Nora war mit beiden befreundet und ist inzwischen eine enge Freundin von Diana.  Da Stefanie vor ihrem Verschwinden unschöne Dinge über Nora in ihr Tagebuch geschrieben hat, wird sie für die Polizei schnell zur Hauptverdächtigen. Aber auch Diana rückt in den Fokus der Ermittler und muss selbst anfangen, den Mörder zu suchen.

„Lügendorf“ ist sowohl ein Titel, der gut in die Serie passt (die anderen Bücher heißen „Todesdorf“ und „Rachedorf“), als auch ein Titel, der das Buch hervorragend zusammenfasst. In diesem Dorf gibt es so viele Lügen, dass es mir beim Lesen ganz schwindelig wurde. Gewöhnungsbedürftig fand ich den österreichischen Dialekt, in dem die Autorin manche Dialoge schreibt, aber, Hut ab dafür, dass sie es kann. Manches musste ich mir laut vorlesen, was das Verständnis erleichterte. Das macht das Buch sprachlich sehr besonders. Das Konstrukt „Dorfleben“ beschreibt sie hervorragend, ich lebe in einem Dorf mit etwa 200 Einwohnern und kann es beurteilen. Dorftratsch ist hier mindestens mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs, wenn nicht noch schneller und Gerüchte sind hartnäckig und schwer aus der Welt zu schaffen. 

Dass dieser Krimi mich so packen würde und ich ihn so dermaßen spannend finden würde, hat mich wirklich überrascht. Zwar hatte ich schnell eine Ahnung, wer der Täter ist, aber das tat der Spannung für ich keinen Abbruch. Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und muss dringend die beiden anderen Teile der Serie auch noch lesen. Mit Diana Heller hat Eva Reichl eine ganz besondere Protagonistin geschaffen. Sie ist sehr weit davon entfernt, eine Heldin zu sein, sie ist nicht einmal wirklich sympathisch. Aber sie ist bodenständig, arbeitet fleißig an der Renovierung ihres Hauses und ist in Dorf und Familie fest verwurzelt. Sie hat im Dorf keinen leichten Stand und einige Päckchen zu tragen, kämpft sich aber durch. Die anderen Charaktere sind neben ihr ein bisschen blass, aber durchaus dreidimensional dargestellt. 

Beim Täter hatte ich schon sehr früh den richtigen Riecher, aber die Ermittlungen, die dann zur Lösung des Falls führen, fand ich trotzdem rasant spannend, zumal die Frage nach dem Motiv immer noch über allem schwebte und die Autorin einige Wendungen einbaut. Ich habe das Buch sehr gern gelesen. Von mir fünf Sterne. 


Freitag, 3. Oktober 2025

Hans Christian Andersen. Mit dem Märchendichter im Südwesten - Nina Blazon

 Meine erste Begegnung mit Hans Christian Andersen verursachte bei mir ein tiefsitzendes Trauma, denn seine „Eisprinzessin“ verfolgte mich sehr lang in meinen Alpträumen. „Hans Christian Andersen. Mit dem Märchendichter im Südwesten“ von Nina Blazon hat mich mit dem dänischen Schriftsteller versöhnt. Und das so sehr, dass ich beim nächsten Besuch in Dänemark unbedingt Odense besuchen muss. 

Aber von vorn.

Hans Christian Andersen wurde 1805 in Odense auf der dänischen Insel Fünen geboren. 1819 machte er sich auf den Weg nach Kopenhagen, das war nur eine seiner vielen Reisen. Die erste unternahm er, um in der Hauptstadt Schauspieler zu werden. Das klappte nur mäßig und er hatte das Glück, nach seinem Rausschmiss aus der Elevenschule 1822 einen Gönner zu haben, der ihm höhere Bildung ermöglichte. Der Finanzbeamte Jonas Collin sorgte dafür, dass der magere, hochgewachsene Junge aus der Provinz die Lateinschule in Slagelse besuchen konnte. Anschließend besuchte er die Lateinschule in Helsingør und später die Universität in Kopenhagen. Seine Passionen Schreiben und Reisen begleiteten ihn ein Leben lang. Aus Dankbarkeit nimmt er erst Söhne seines Gönners Collin mit in die Ferne, später auch einen Enkel. Selbst nie verheiratet, war Andersen wohl des Öfteren verliebt – in Frauen und Männer gleichermaßen. Nina Blazon wandelt auf den Spuren des Dichters im Südwesten der Bundesrepublik, zusammen mit den beiden besucht die Leserschaft unter anderem  Heidelberg, Stuttgart und Wildbad, man reist gemeinsam in Kutsche und Diligence (Express-Kutsche) und in der Eisenbahn. Geschichten treffen bei den Reisen auf Geschichte. Der Bau des Ulmer Münsters, die Neu-Ordnung Europas durch Napoleon, das Aufkommen der Eisenbahn – das alles hat HC Andersen miterlebt, die Anekdoten hat er in seinem Tagebuch notiert oder in seinen Werken verarbeitet. Seine Reisen waren durch Treffen mit großen Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Politik geprägt.

Man spürt die Begeisterung Andersens für das Reisen an sich, für die Sehenswürdigkeiten und für einige der Menschen, denen er begegnete. Und man spürt die Begeisterung Nina Blazons für Andersen. Und diese Begeisterung ist ansteckend. Sie beschreibt den Dichter sensibel und fast wie einen alten Freund. Sie geht nicht mit ihm ins Gericht, wenn seine Hypochondrie ihm Durchfall, Kopf- und Zahnschmerzen beschert, seine Angewohnheit, seine Wertsachen in den Schuhen zu verstecken, weiß sie ebenfalls zu erklären. Sie beruft sich dabei auf sein Tagebuch, das eigentlich gar nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht war. Darin schreibt er nämlich ungeschliffen und ganz sicher nicht druckreif. Aber er schreibt ehrlich und authentisch, ungeschönt und menschlich. 

Sprachlich war das Buch für mich ein Hochgenuss und es brachte mir den Dichter so nahe, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Ich hätte noch ewig weiterlesen können. Ich empfehle das Buch Freunden von Biografien, dänischer Literatur, Märchen – eigentlich kann ich es jedem empfehlen, es ist ein wirkliches Highlight.


Der Tag, an dem Max dreimal ins Auto gekotzt hat - Marc-Uwe Kling

 Als wären Familienfeiern an sich nicht schon stressig genug – man muss ja auch noch anreisen. Wie so eine Anreise aussehen kann, hat Marc-Uwe Kling in „Der Tag, an dem Max dreimal ins Auto gekotzt hat“ sehr treffend beschrieben. Das Buch ist der fünfte Teil seiner „Trubel bei Tiffany“-Reihe. Ich habe das Hörbuch abends vor dem Einschlafen gehört und bin beinahe vor Lachen aus dem Bett gefallen. Für mich hätte es gerne noch viel länger sein dürfen.

Aber von vorn.

Tante Ilse will heiraten. Zum vierten Mal. Und dann auch noch in Wuppertal. Tiffany und Familie planen, mit dem Auto anzureisen, obwohl Opa Gerhard so viel lieber mit dem Zug gefahren wäre. Die Reise steht von Anfang an unter keinem guten Stern. Mama ist genervt vom Packen. Papa hat einen Kratzer ins Auto gefahren, das er sich von seinem Chef geliehen hat und das hat auch noch der Nachbar gesehen. Oma sucht ihr Handy, Luisa hat Hormone und Tiffanys großer Bruder Max ist nach einer durchzechten Nacht etwas grün um die Nase. Tiffany hat als einzige gute Laune, muss aber immer mal wieder aufs Klo. Und dann wird Max auch noch schlecht. Mehrmals.

Vorab: das Buch und vor allem das Studio-Hörbuch sind für  Emetophobiker absolut nicht geeignet. Die „schrägen Geräusche und Musik von Boris Löbsack“ triggern stark, die Live-Lesung ist da gemäßigter. Ich fand die Live-Lesung insgesamt besser, zwar werden beide vom Autor selbst gelesen, aber live spielt er mehr mit den Stimmen und das hat mich mehr abgeholt. 

Ich kannte aus der Reihe bislang nur „Der Tag, an dem Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat“, aber natürlich kann man „Der Tag, an dem Max dreimal ins Auto gekotzt hat“ auch ohne Vorkenntnisse lesen/hören. Alle wichtigen Informationen werden in die neue Geschichte eingebaut, außerdem ein paar Querverweise auf andere Werke des Autors wie „Das Klugscheißerchen“ oder „Die Känguru-Chroniken“. Das Buch hat durchaus auch eine gewisse unerwartete Spannung. Wann wird Max kotzen? Wird Papa noch mehr Kratzer ins Auto fahren? Findet Oma ihr Handy? Lässt er Opa am Bahnhof aussteigen, damit der mit dem Zug fahren kann? Wann und wie oft muss Tiffany aufs Klo? Und wird jemand „Wann sind wir endlich da?“ fragen? 

Autofahrten wie diese hat sicher jeder schon einmal erlebt, entweder aus Kinder- oder aus Erwachsenen-Perspektive. Bei vielen Stellen konnte ich daher nicken, vor allem, da mir beim Autofahren auch immer schlecht wir. Die Charaktere in der Geschichte sind detailliert und bildhaft ausgearbeitet und beschrieben. Sie sind alle so wunderbar stereotyp, dass es schon fast Kult ist. Das Hörbuch hat mich absolut begeistert, aber ich denke, Marc-Uwe Kling könnte auch das Wuppertaler Telefonbuch vorlesen, ich würde es mir anhören. Ich bin mir sicher, auch dort würde er noch Wortwitz und einen Hauch Gesellschaftskritik unterbringen. Von mir die volle Punktzahl.


Das erkaufte Glück - Anna Johannsen

 Mit „Das erkaufte Glück“ startet Anna Johannsen in eine neue Krimi-Serie. Ich kenne die Autorin bereits von den Büchern über die Inselkommissarin Lena Lorenzen, das Ermittlerduo Hanna Will und  Jan de Bruyn und natürlich von ihren Enna Andersen-Krimis, daher war ich gespannt, was für eine Ermittlerin sie uns in der neuen Reihe serviert. Ich muss sagen, ich bin mit Lea Nielsen nicht wirklich warm geworden. 

Aber von vorn. 

Lea Nielsen hatte beim LKA in Hannover eine vielversprechende Karriere vor sich, gab ihre Stelle aber zugunsten eines Jobs in der Provinz, genauer gesagt,  in Wittmund, Ostfriesland, auf. Warum sie diesen Schritt gegangen ist, weiß niemand außer ihr selbst. Ihr Vater Karl ist an Demenz erkrankt und, obwohl dieser die Familie im Stich gelassen hatte, als sie noch sehr jung war, möchte sie sich um ihn kümmern. Als dann Maya van Berg vermisst wird, steht Lea vor ihrer ersten Bewährungsprobe im neuen Job. Der Vermisstenfall wird erst als „weggelaufene 19Jährige“ behandelt. Aber kurze Zeit später wird ihr Auto in einem Wald gefunden, ganz in der Nähe liegt der Autoschlüssel. Und damit nicht genug: wenige Tage später bekommen ihre Eltern ein Erpresserschreiben. Die Entführer fordern eine Million Euro in kleinen Scheinen. Dazu verlangen sie von Mayas Mutter, die als Life Coach erfolgreich ist, eine schriftliche Erklärung an alle Kunden „was für eine durchtriebene und geldgeile Person“ sie sei. Tatsächlich ist Sonja van Berg absolut unkooperativ und verweigert die Zusammenarbeit mit der Polizei. Noch dazu erfüllt sie die Forderung der Entführer nicht zufriedenstellend und diese erhöhen das Lösegeld auf zwei Millionen, die Forderung wird durch ein Video der Entführten unterstrichen. Den Ermittlern läuft die Zeit davon.

Mit „Das erkaufte Glück“ hat Anna Johannsen das Rad nicht neu erfunden, aber ist ein bodenständiger Krimi, der mich gut unterhalten hat. Es war nett, mitzuraten, zumal der Krimi einige unerwartete Wendungen nimmt. Lokalkolorit spielt, wie in allen Büchern von Anna Johannsen, eine große Rolle. Mit ihrer neuen Ermittlerin hat die Autorin einen Charakter mit Ecken und Kanten geschaffen, der zu Alleingängen neigt und immer wieder fällt der Satz „es ist kompliziert“. Und genau das ist es: kompliziert. Für mich war das Buch eine Achterbahnfahrt aus Spannung, zu vielen ähnlichen Charakteren und jeder Menge Privatleben der Protagonistin. Diese Privatleben macht einen erheblichen Teil des Buchs aus, wobei Lea eben dieses vor den Kollegen geheim hält. Das Verhältnis zu den Kollegen ist ebenfalls kompliziert, sie fügt sich schlecht in das Team in Wittmund ein. Die Kollegen machen es ihr auch nicht leicht, sie trifft auf Mansplaining, Misogynie und Ablehnung. 

Die Protagonistin ist gut beschrieben, leider fand ich sie nicht besonders sympathisch. Vermutlich brauche ich noch ein oder zwei Bücher mit ihr, um mich an sie zu gewöhnen. Vor allem der Spagat zwischen beruflicher Herausforderung und der Belastung durch ihren demenzkranken Vater ist sehr gut dargestellt und gibt ihr eine menschliche Komponente. Ihre Überforderung ist einer der wenigen Punkte, der sie für mich nahbar machen. Sonst weiß ich noch nicht, was ich von der Polizeibeamtin, die die Polizeischule nach dem ersten juristischen Staatsexamen besucht hat, halten soll. Die meisten anderen Charaktere sind eher blass, abgesehen von Leas Freund Jan, ihrem Vater Karl und Sonja, der Mutter der vermissten Maya. Diese Personen werden sehr detailreich beschrieben. Sehr viele Details widmet Anna Johannsen auch Sonja van Berg, der verschwurbelt angehauchten Mutter, die als Life Coach reich geworden ist.

Obwohl das Buch ein solider Krimi, sprachlich gut geschrieben und leicht zu lesen ist, fehlte mir über weite Strecken die Spannung, selbst eine Verfolgungsjagd konnte mich nicht wirklich packen. Für mich schaffte „Das erkaufte Glück“ die Balance zwischen Roman und Krimi nicht ganz, da das Privatleben der Ermittlerin und das Kompetenzgerangel in der Dienststelle viel Platz einnehmen. Da verkommen die komplizierten und komplexen Ermittlungen manchmal fast zur Nebensache, was ich sehr schade finde. 

Aber natürlich werde ich auch diese Serie weiterverfolgen. Von mir gibt es für den Auftakt drei Sterne. 


Montag, 22. September 2025

Biarritz - Andrea Sawatzki

„Biarritz“ ist das neue Buch von Andrea Sawatzki. Nach „Brunnenstraße“ ist es das zweite Werk der bekannten Schauspielerin über die Beziehung zu ihrer Mutter. Ich hatte mich sehr auf das Buch gefreut, da ich vom Hörbuch zu „Brunnenstraße“ begeistert war. Und auch „Biarritz“ enttäuschte mich nicht. 

Aber von vorn.

Hannas Mutter Emmi lebt in einem Pflegeheim und ihre Demenz schenkt ihr kaum noch klare Momente. Das Mutter-Tochter-Verhältnis war schon immer kompliziert. Die Mutter war bei Hannas Geburt ledig, die erste Zeit verbrachte das Baby auf der Kinderstation des Krankenhauses, in dem Emmi arbeitete, später dann bei einer Pflegemutter und noch später konnten die beiden zusammenleben. Erst als Hanna acht Jahre alt war, konnten die Eltern nach dem Selbstmord der Ehefrau des Vaters zusammenziehen. Statt des erträumten harmonischem Familienleben wurde aber alles noch schwieriger. Der Vater, den das Mädchen sich so sehr gewünscht hatte, erkrankte früh an Demenz und Hanna musste sich um ihn kümmern, während die Mutter den Familienunterhalt verdiente und die hohen Schulden des Vaters abstotterte. Jetzt ist die Mutter ebenfalls dement, Hanna kann sich allerdings leisten, sie in einem Heim unterzubringen. Dort lernt sie auch Marianne kennen, eine ehemalige Kollegin und Freundin der Mutter. Marianne verschafft Hanna einen tieferen Einblick ins Leben ihrer Mutter, erlaubt ihr andere Sichtweisen und Hanna lernt ihre Mutter auf eine neue Art kennen. 

Angehörige zu begleiten, die dement sind/werden, ist schwierig genug. Wenn man aber schon vorher ein schwieriges Verhältnis zu ihnen hatte, ist es noch viel schwieriger. Wie soll man einen Zugang zu dem Menschen bekommen, ihn besser kennenlernen, lange vermisste Nähe zu schaffen, wenn er selbst nicht mehr in der Lage ist, sich zu erklären. Emmi ist inzwischen praktisch nonverbal, sitzt im Rollstuhl und Hanna besucht sie mehr aus Pflichtgefühl jeden Sonntag, denn „Sonntage waren immer schon dazu da gewesen, mit Verwandtschaftsbesuchen gefüllt zu werden“. Hanna hat Glück. Sie trifft auf Marianne Kirschbaum, eine alte Freundin der Mutter, jemand, der sie anders kennengelernt hat, jemand, der sie kannte, bevor sie Geliebte, später Mutter und, noch später,  frustrierte Ehefrau wurde. Erst durch sie erfährt sie von Biarritz, dem Sehnsuchtsort der Mutter. An dem Badeort im äußersten Südwesten Frankreichs durfte Emmi vor einigen  Jahrzehnten eine glückliche Zeit verbringen. Aber er ist auch der Inbegriff von Freiheit und Unbeschwertheit, ein Symbol für ein anderes Leben.  

In gewisser Weise ist „Biarritz“ eine Fortsetzung zu „Brunnenstraße“. Es empfiehlt sich auch, beide zu lesen, wobei es viele Überschneidungen gibt. In „Biarritz“ ist Emmi die zentrale Figur, wie an den Sonntagen im Pflegeheim ist Hanna auch in der Handlung eher eine Besucherin oder eine außenstehende Beobachterin. Das Buch ist gut aufgebaut, sprachlich angenehm zu lesen und Andrea Sawatzki schafft es, düstere und schwere Kost manchmal sprachlich fast leichtfüßig zu servieren. Ich spürte beim Lesen eine tiefe Verbundenheit mit der autofiktionalen Hanna und eine große Hochachtung für sie. Sie musste in jungen Jahren die Pflege des dementen Vaters, den sie noch nicht einmal wirklich gut kannte, meistern, wurde mit ihren Gefühlen alleingelassen.

Das Buch hat mich sehr berührt. Es regt zum Nachdenken an. Die Autorin thematisiert den Umgang mit alten Menschen im Allgemeinen und mit Demenzbetroffenen im Besonderen. Auch die unglückliche Ehe der Eltern, der Umgang der Gesellschaft mit unverheirateten Müttern und die Tatsache, dass Hanna sich um ihren Vater kümmern musste, wird in diesem Buch, wie auch in „Brunnenstraße“ beschrieben. Diese Parentifizierung war eine krasse Überforderung und die Konsequenz waren nicht nur schlechte Schulnoten wegen fehlenden Nachtschlafs, selbst die Mutter merkte, dass „ihr lebendiges, abenteuerlustiges Kind zunehmend stiller, verzagter“ wurde. Das Buch handelt von Hass, Liebe, dem Streben nach Zuneigung und dem Wunsch, andere, vor allem die eigenen Eltern, stolz zu machen. Wer bei der Lektüre von „Brunnenstraße“ Emmis Perspektive vermisst hat, bekommt sie jetzt. Andrea Sawatzki schließt Lücken, die bei „Brunnenstraße“ geblieben sind und fördert das Verständnis für das Verhalten von Emmi, denn man versteht jetzt auch besser, was in ihr vorging, wenn sie ihre Tochter jeden Abend mit dem unkontrollierbaren kranken Vater alleinlassen musste. Von mir gibt es dafür 4,5 Sterne, aufgerundet auf 5.

 


Meine Mutter - Bettina Flitner

 Fast genau zwei Jahre nach ihrem Roman „Meine Schwester“ legt Bettina Flitner mit „Meine Mutter“ ein zweites Buch zu ihrer Familiengeschichte nach. Ich kannte die Autorin vorher nicht, allerdings sprach mich der Klappentext an, Erwartungen oder gar Ansprüche hatte ich an das Buch nicht. Ich habe das Buch innerhalb kürzester Zeit gelesen und dennoch hat es mich nicht hundertprozentig begeistert, denn die Distanz, mit der die Autorin über alles schreibt, hat sich auf mich übertragen. 

Aber von vorn.

Bettina Flitner kommt für eine Lesung aus ihrem Buch „Meine Schwester“ zurück nach Celle. Dort hat sie vor 40 Jahren ihre Mutter Gila beerdigt. Erinnerungen prasseln auf die Autorin ein und ihr wird klar, dass sie große Wissenslücken bezüglich ihrer Familie hat. Suizide spielen eine große Rolle in der Familie, soviel weiß sie. Ihre Mutter und ihre Schwester haben im Abstand von 30 Jahren Suizid begangen. Aber sie waren nicht die ersten. Bettina Flitner reist in die Vergangenheit ihrer Familie und sucht ihre Wurzeln im polnischen Międzygórze (ehemals Wölfelsgrund), wo ihr Ururgroßvater Heinrich seinerzeit ein Sanatorium gründete. Bettina Flitner versucht, sich ihrer Mutter anzunähern, trifft auf fiktionaler Ebene ihre Vorfahren und das Mädchen und die „Frau, die einmal meine Mutter werden wird“. 

Die Autorin wurde schon früh mit Suiziden konfrontiert. Sie erinnert sich, dass sie bei Familienfesten mit ihren Cousins und Cousinen die Verwandten zählte, die diesen Weg gingen: „Richard und Elfriede. Mit ihnen fingen wir an. Ich hob eine Hand in die Luft und zählte mit den Fingern mit. Richard und Elfriede, Daumen und Zeigefinger. Tante Erika, Onkel Christoph, Mittelfinger, Ringfinger. Tante Gudrun, Onkel Holger, kleiner Finger, Daumen der nächsten Hand. Wie viele waren es? Die Finger von zwei Händen reichten nicht aus.“ Was macht es mit einer Jugendlichen, die am Morgen ihrer Abiturprüfung das Leben ihrer Mutter nach einer Überdosis Schlaftabletten retten muss? Wie lebt man mit steten Gefühlsschwankungen und der Angst, die Mutter irgendwann tot aufzufinden? Und wie arbeitet man diese Erlebnisse auf, wenn die beiden wichtigsten an ihnen Beteiligten nicht mehr da sind? Sie können kein Licht mehr ins Dunkel bringen, keine Erklärungen zum „Warum?“ abgeben. Für mich schildert die Autorin das zu beiläufig und zu distanziert, aber für sie selbst ist das vermutlich genau richtig. 

Das Buch ist sprachlich ansprechend und gut zu lesen. Es übte auf mich beim Lesen einen unerklärlichen Sog aus, vermutlich, weil ich die ganze Zeit darauf gewartet habe, dass ich zu den Charakteren eine (Ver)Bindung aufbauen würde. Das ist aber nicht passiert, vielleicht auch, weil es einfach viel zu viele Namen sind, die auf mich bei der Lektüre einprasselten. Manchmal scheint die Geschichte der Mutter auch etwas zum Nebenthema zu werden, die Gesellschaftskritik und die Rolle der Frauen ist manchmal zu dominant. Die Frauen in Bettina Flitners Familie sollten eine gute Partie machen, die Männer gehen allesamt irgendwann fremd. Opa Api hat zusammen mit seiner Tochter Gudrun nach dem Ende des Krieges bei vergew****en Frauen und Mädchen Abtreibungen vorgenommen. Dabei drückt er in seinem Tagebuch die Verachtung gegenüber den Opfern klar aus: „An den Ver*****gungen sind die Frauen großenteils selbst schuld“. Auch an seiner Tochter Gila lässt er sogar bei ihrer Beerdigung kein gutes Haar: „Sie hat nie etwas getaugt“. 

Ich tat mich  mit dem Aufbau des Buchs etwas schwer, man musste sich schon sehr konzentrieren, um zu wissen, in welcher Zeit man sich gerade befand. Auch die stetige Erwähnung einer Patientin im Sanatorium als „Ida Grünfeld, verheiratete Benjamin“ machte mich traurig, denn Frau Benjamin war ein eigenständiger Mensch und nicht nur „Frau von“. Da zeigt die Autorin einerseits den Zeitgeist der 1940er Jahre, aber auch etwas, was mir widserstrebt. 

Der Roman beruht auf Gesprächen mit Familie und Zeitzeugen, Tagebüchern, Briefen und Dokumenten und natürlich besteht er auch aus einer großen Portion Fiktion. Was tatsächlich passiert ist und was fiktional ist, kann man nicht erkennen, das weiß nur die Autorin selbst, und nicht einmal sie kennt die wirkliche Geschichte komplett. So überraschte sie, dass jemand auf einem Foto die NSDAP-Parteiabzeichen auf der Jacke ihres Opas mit Bleistift übermalt hat. Für mich war das Buch auf jeden Fall zu viel Familie und zu wenig Mutter, daher vergebe ich drei Sterne.