Mittwoch, 19. Juni 2019

Brandaktuell und brandgefährlich

Bevor hier jetzt irgendwer glaubt, ich hätte völlig den Verstand verloren - das Buch wurde mir dankenswerterweise vom Verlag über NetGalley zur Verfügung gestellt und ich habe es im Rahmen von Recherche zu dem Thema gelesen. Nicht mehr und nicht weniger.



„Mein neues Leben mit der Lichtnahrung“ – schon allein der Titel des Buchs von Aurelienne Dauguet machte mich neugierig. Als naturwissenschaftlich interessierter Mensch bin ich solchen Themen gegenüber einerseits aufgeschlossen, andererseits aber auch enorm skeptisch. Ich habe mich in anderen Zusammenhängen viel mit Photonen und Quanten befasst und natürlich hatte ich in den Medien schon über Lichtnahrung gehört (nicht zuletzt nach dem Tod von Finn Bogumil und dem Film „Es werde Licht“).
21 Tage dauert die „Umstellung“ der Autorin von „stofflicher Nahrung“ (also dem, was man so herkömmlich unter Nahrung versteht) auf „feinstoffliche Nahrung“ (also Prana oder Lichtnahrung). Die Autorin hatte sich schon länger mit dem Thema Fasten und Ernährung im Allgemeinen befasst, hatte immer wieder gefastet, die Ernährung auf vegan umgestellt – da war für sie der Weg zur Lichtnahrung ein logischer.
Des Öfteren betont sie, dass das Buch keine Aufforderung sei, es ihr gleich zu tun. Aber sie betont (offen oder zwischen den Zeilen), dass diejenigen, die es schaffen, von Licht zu leben, überlegen sind, da sie sich von allen „Süchten“, zu denen sie auch das Essen zählt, befreien konnten. Und sie sind dadurch sensibler, leistungsfähiger und besser geworden, die Autorin kommuniziert nicht nur mit Pflanzen, sondern auch mit ihrem eigenen Selbst aus vorherigen Leben (Inkarnationen).
Und natürlich nehmen sie auch nur so viel ab, wie sie es sich selbst vorgenommen haben. Sie programmieren ihren Körper darauf, nicht wie Anorektiker auszusehen, ausgemergelt und faltig, sondern den Körper zu bekommen, den sie in der Blütezeit ihres Lebens hatten, mit dem sie sich wohlgefühlt haben.
Alles in allem wendet die Autorin eigentlich alle bekannten Pseudo- und Parawissenschaften an, die ich kenne: Homöopathie, Osteopathie, Bachblüten, Radionik und so weiter, – vor allem aber praktiziert sie Achtsamkeit, was irgendwie aber auch heißt: sie beschäftigt sich den ganzen Tag mit sich selbst. Wie fühle ich mich? Was macht mein Körper (also: was macht mein Darm, wie sieht mein Urin aus und wie riecht er (und tatsächlich auch: wie schmeckt er?)? Tut mir was weh? Bin ich glücklich, entspannt, sensibel?) und sie kommuniziert mit den Himmlischen.
Wer kann das im normalen Alltag überhaupt leisten? Die Autorin ist gelernte Krankenschwester, nennt sich Therapeutin und Dozentin. Tatsächlich „praktiziert“ sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz,  bietet Aura-Arbeit, Lithotherapie, feinstoffliche Radionik und noch vieles andere.
Auf jeden Fall ist sie 64 Jahre alt und arbeitet freiberuflich. Daher findet sie die Zeit, in ihren Körper hineinzuhorchen und ihre zahllosen Übungen durchzuführen. Sie spürt Schwingungen von Lebensmitteln, bezeichnet sich selbst als „hellsichtig“ und obwohl sie es immer wieder verneint: sie sieht sich selbst als unglaublich wissend und überlegen.
Da habe ich das Buch zum ersten Mal aus der Hand gelegt und bin an die frische Luft. Aber nicht, um ein bisschen Licht zu naschen, sondern um bei einem knackigen Lauftraining meinen Geist von so viel Geschwurbel zu befreien.
Und Aurelienne Dauguet schreibt fröhlich darüber, dass sich nach 12 Tagen alles wieder eingependelt habe. Die Verdauung, der Schlaf (man kommt blendend mit 4 Stunden aus), das Hungergefühl und auch ihre Herzrhythmusstörungen verschwanden, denn natürlich waren die nur ein Zeichen der körperlichen Entgiftung. Das Hochgefühl beim Hungern kenne ich von Anorektikern. Da kommen die Endorphine durchs Hungern erst richtig in Schwung und man fühlt sich einfach nur toll.
Und obwohl sie ja keinen dazu missionieren will, sich der Lichtnahrung zuzuwenden, spricht sie den Leser immer wieder direkt an. Sie schreibt über eine Klientin aus ihrer „Praxis“, eine übergewichtige Frau und obwohl sie es nicht in klaren Worten sagt – zwischen den Zeilen kann man die Verachtung lesen, die sie der Frau entgegenbringt. Weil sie einfach nicht den Schritt schafft, sich von ihrem Übergewicht zu befreien, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sie spricht sie virtuell sogar mit „Liebe Klientin“ an. Und dann gehen auch die Pferde ein wenig mit ihr durch. Sie schreibt sich ein bisschen in Rage. Fabuliert über „der Mensch ist der König und nicht der Sklave“ bis hin zu „Wachen Sie auf!“ Wurstplatte oder Prana – letzteres schmeckt und tut besser, auf allen Ebenen“. Jeder ernährt sich von viel zu viel, sie prangert Konsum und Überfluss an („er ekelt mich an“) – und die Schädlichkeit von Pestiziden (da zeigt sich, dass sie sich in Schwung geschwurbelt hat, denn Glycosphat gibt es nicht, da fehlt Hintergrundrecherche oder es ist ein Schreibfehler, auf jeden Fall fehlt da die hellsichtige Sorgfalt). „Fieber ist ein nützliches Antibiotika“ – nein, höchstens ein AntibiotiKUM. Wo bleibt bei dem Buch eigentlich das Lektorat?
Aber wenn ich Sätze lese wie „Heute Nacht weckte mich Herzrasen“ oder „Ich brauchte einige Zeit, bis ich aufrecht stehen und umhergehen kann“, schüttelt sich mein Kopf ganz von selbst, denn auch das kenne ich aus meiner Erfahrung mit Anorektikern. Aber bei ihr sind das die Nachwirkungen von Erfahrungen aus früheren Leben. Und auch die Tatsache, dass sie beim Bergwandern außer Atem kommt und „ein Schläfchen im Gras“ braucht, ist für sie kein Alarmzeichen.
So sieht sorgsamer Umgang mit dem eigenen Körper aus? Mit diesem „guten, lieben Körper“, wie sie ihn nennt? Sich auf die nächste Daseins-Ebene zu bewegen bedeutet Herzrasen, niedrigen Blutdruck und Kreislauf-Ausfälle? Natürlich deklariert die Autorin das als „Reinigungsprozess“ und nicht als Mangelernährung mit viel zu wenigen (weil gar keinen) Kalorien. Sie preist Einläufe und verschiedene Öle an, zitiert wild die Bücher anderer Lichtnahrungs-Jünger, macht Werbung für Bücher und Pamphlete und manche „Instrumente“ (ein Umkehrosmose-Gerät für die Wasseraufbereitung ist samt Hersteller-Website erwähnt .
Nach der „Installation der Lichtnahrung“ konsumierte die Autorin durchaus ab und an ein Löffelchen Honig hier und da, wenn der Körper dringend Energie in Form von Kalorien brauchte. Oder Sesammus, denn tatsächlich scheint etwas bei der Programmierung ihres Körpers auf ein bestimmtes Gewicht schief gegangen zu sein – sie nahm weiterhin ab.
Ja, jeder Jeck ist anders. Aber manche sind gefährlicher als andere. Die Autorin befindet sich nach eigener Aussage „in einem anderen Kontext“. Wenn man das Buch unter Vorbehalt in die Hand nimmt und mit Neugier und Skepsis liest, kann es einem einen Blick auf eine sehr spezielle Spezies Mensch eröffnen. Wenn man den Weg des Heils sucht und erwägt, diesen zu finden, indem man von Licht lebt – sollte man meiner Ansicht nach eher professionelle Hilfe suchen.
Das Buch war gut gegliedert (in einen Tagebuch-artigen Teil, in dem sie die Umstellung auf Prana schildert und einen mehr theoretisch-erklärenden Teil für die Zeit danach). Die Hinweise auf unzählige parawissenschaftliche „Erkenntnisse“, massig wissenschaftlich klingende Begriffe, die sich bei näherem Hinsehen als reine Erfindung irgendwelcher Möchtegern-Heilsbringer und Pseudo-Wissenschaftler herausstellen, waren aber eher verwirrend und sehr ermüdend. Begrifflichkeiten wie „Lichtstrahlkraft der Ätheraura“, Lichtwasser, Sonnenwasser und Mondwasser, die Milz als Lichtorgan und noch unzählige weitere, zusammengesammelt aus Wissenschaft und Parawissenschaft und wie in der Homöopathie üblich zusammengemixt, verschüttelt und daraus etwas gemacht, das logisch klingt, jeglicher Logik entbehrt und was keiner braucht.
Zahllose Erfahrungen der Autorin sind reiner Zufall oder von ihr rein subjektiv so erlebt. Dass sie just in dem Moment, als sie ein neues Shampoo braucht, welches geschenkt bekommt. Ihre Hellsichtigkeit. Jeder Mensch kennt dieses „Déjà-vu Gefühl“ oder das Gefühl, sich an ein früheres Leben erinnern zu können. Viele sind auch ohne Lichtnahrung sehr feinfühlig und sensibel, viele leben auch ohne Lichtnahrung in der heutigen Konsumgesellschaft minimalistisch, ohne davon irgendein Aufhebens zu machen oder es zu irgendetwas hochzustilisieren, das es nicht ist. Auch die angeblich so fabelhafte körperliche Leistungsfähigkeit der Autorin – es fällt einem schwer das alles zu glauben, andererseits kenne ich Anorektiker, die mit grenzwertigstem Untergewicht noch Marathon laufen.
Abgesehen davon fand ich das Buch zwar unterhaltsam aber brandgefährlich und vergebe 2 Sterne. Leseempfehlung für alle, die sich kritisch mit dem Thema befassen möchten, aber keine Ambition haben, es selbst auszuprobieren.

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