Montag, 21. Oktober 2019

Vergesst unsere Namen nicht - Simon Stranger

Von A bis Z ein Werk gegen das Vergessen

Stolpersteine hat sicher so gut wie jeder schon einmal gesehen. Aber nur wenige verbinden mit den Namen darauf eine Geschichte, Gesichter und Schicksale. Anders bei Simon Strange, dem Autor von „Vergesst unsere Namen nicht“. Er erzählt ausgehend vom Stein für Hirsch Komissar die Geschichte seiner Frau Rikke und deren Familie.

Und nicht nur dieses ganz persönliche Schicksal bringt der Autor dem Leser näher. Nicht zeitlich linear, sondern gegliedert in Stichworte von A bis Z, verflicht er Familiengeschichte mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Norwegen, vor allem mit den grausamen Taten von Henry Oliver Rinnan und seiner „Rinnan-Bande“ in und um Trondheim. Rinnan widmet Stranger einen großen Teil des Buchs, seiner Entwicklung von einem kleinen, schmächtigen Vorgartengangster (er beklaute seinen Arbeitgeber) zu einem Doppelagenten, Folterknecht und mehrfachen kaltblütigen Mörder. Am Rande dokumentiert er knapp, aber nicht minder bedrückend, die Geschichte des Juden-Hasses, der Juden-Verfolgung und der Pogrome. Lässt aber auch diejenigen nicht unerwähnt, die ihr Leben riskierten, um Menschen aus Norwegen nach Schweden, und damit in Sicherheit, zu bringen.

Hirsch Komissar wurde 1942 als eine Art Vergeltungsmaßnahme erschossen – für eine Tat, mit der er nichts zu tun hatte, vermutlich nicht einmal davon wusste. Direkt hat seine Geschichte auch nichts mit der „Rinnen-Bande“ zu tun, außer, dass sie beide aus derselben Gegend stammen. Später zieht Gerson, einer der Söhne von Hirsch Komissar mit seiner Familie allerdings in eben das Haus ein, in dem Rinnen Verdächtige foltern ließ, selbst folterte und mordete, in das sogenannte „Bandenkloster“. Eine perverse Koinzidenz. Vor allem, weil das Haus, obwohl es in der Zwischenzeit sogar als Kindergarten genutzt wurde, immer noch die Spuren der Gräueltaten trägt, wie zum Beispiel Kugeln in den Kellerwänden oder einem Beutel mit ausgerissenen Fingernägeln, die die Kinder im Dachgeschoss finden.

Stranger setzt einerseits dem (ihm natürlich unbekannten) Urgroßvater seiner Frau ein eindrückliches Denkmal, erzählt Ausschnitte aus seinem Leben und Sterben. Andererseits dokumentiert er den Aufstieg von Henry Oliver Rinnan anhand von Original-Unterlagen sehr präzise. An manchen Stellen schildert er sie für mich fast zu präzise.

Alles in allem ist das Buch alles andere als leichte Kost. Es ist trotz der gefälligen Sprache beileibe keine Unterhaltungs-Lektüre. Im norwegischen Original trägt das Buch den Titel „Lexikon von Licht und Dunkelheit“ – auch das passt hervorragend. Allerdings ist der deutsche Titel auch nicht ganz unpassend gewählt. Denn im jüdischen Glauben heißt es, dass man zweimal stirbt. Einmal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und das Gehirn sich abschaltet. Aber ein zweites Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, wann auch immer das sein wird. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Tot ist nur, wer vergessen ist.

Es ist ein leises, ruhiges und trotz der vielen Grausamkeiten angenehm unaufgeregtes Buch. Es (be)wertet nicht, prangert nicht an, diese Gewichtung überlässt der Autor dem Leser. Es beschreibt nur. Einen Aspekt des Holocaust (nämlich den in Norwegen), von dem ich bislang nur sehr wenig wusste. Ein Buch, das die Erinnerung an die Opfer und damit sie selbst am Leben hält, lange über ihr Dasein hinaus.

Ein bedrückendes Werk, vor allem in der heutigen Zeit. Und trotz der Angst, die das Buch hinterlässt, trotz des unguten Gefühls und der schlaflosen Nacht, die es mir beschert hat, weil ich es nicht aus der Hand legen konnte – ein absolutes Muss!

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