Freitag, 18. Juni 2021

Der Mann im roten Rock - Julian Barnes

„Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an. Einer war ein Prinz, einer war ein Graf und der Dritte war ein einfacher Bürger mit einem italienischen Familiennamen. Der Graf beschrieb den Zweck der Reise später als »intellektuelle und dekorative Einkaufstour«“. Damit fängt Julian Barnes‘ neuestes Werk „Der Mann im roten Rock“ an. Kein Roman, keine Biografie, sondern ein Essay über die Belle Époque, das Fin de Siècle im Allgemeinen und den Arzt Dr. Samuel Jean Pozzi, der John Singer Sargent für dessen Gemälde „Dr. Pozzi at Home“ (so heißt das Bild vom Mann im roten Rock tatsächlich) 1881 Modell gestanden hat, im Besonderen. Für mich ein Buch, das ich zwischen einzigartig und eigenartig ansiedle.

Zugegebenermaßen kannte ich vor der Lektüre weder Julian Barnes noch Dr. Pozzi und die Belle Époque konnte ich nur grob einordnen. Aber jetzt, da ich das Buch zu Ende gelesen habe, weiß ich wesentlich mehr. Viel zu wenig über den Arzt, aber sehr viel über die Zeit, in der er lebte. Über ihn habe ich erfahren, dass er ein visionärer Gynäkologe war und ein Arzt für die Reichen und Schönen. Dass er ein Dandy, Lebemann und Kunstsammler war, widerlich gut aussah und dass er von 1848 bis 1918 lebte. Außerdem lernte ich etwas über seinen mehr oder weniger illustren Dunst- und Freundeskreis, in dem sich neben Grafen und Prinzen auch bekannte Persönlichkeiten wie Sarah Bernhardt Oscar Wilde bewegten. Über die Zeit der Belle Époque erzählt Julian Barnes locker und im Plauderton von großer Geschichte und kleinen, intimen Geschichten. Er schreibt über Duelle, zeitgenössische Literatur und Kunst und zeichnet damit ein deutliches Bild der Zeit und des dekadenten Lebens der damaligen High Society.

Sprachlich fand ich das Buch sehr gut formuliert, wenn auch manche Sätze sehr lang und verschachtelt sind. Aber der Inhalt ist durch die Fülle an Personen und die unglaubliche Masse an wichtigen und unwichtigen Informationen sehr überladen und hat mich manchmal fast erschlagen. Ich kam mir vor wie in einem Spinnennetz. Ausgehend von der Mitte (dem Gemälde vom Mann im roten Rock) flicht der Autor viele Fäden in alle möglichen Richtungen. Ich klebte wie eine Fliege in der Mitte, unfähig, das Buch wegzulegen, aber auch nicht wirklich begeistert davon.

Wer sich für ein Sittenbild der Belle Époque interessiert, der ist mit dem Buch hervorragend bedient. Wer sich aber eine Biografie des Arztes erhofft, wird wohl ebenso überrascht und eventuell enttäuscht sein, wie ich und sich durch die Menge an Information leicht überfahren fühlen. Die kleine Prise Politik, die der Autor einfließen lässt, fand ich allerdings sehr erleuchtend: er beleuchtet die Unterschiede zwischen England und Frankreich bezüglich der Frauenrechte, Korruption, Auffassung von Recht und Gesetz, lässt seine Protagonisten philosophisch angehaucht einen Blick auf Europa werfen, was aus heutiger Sicht, nach vollzogenem Brexit sogar fast poetisch anmutet.

Aber leider gibt es zu Dr. Pozzi, der eigentlich die Hauptperson des Buchs sein sollte, gar nicht so viele Fakten, denn er hat selbst nicht wirklich viel hinterlassen. Das meiste, was man über ihn erfährt, stammt aus den Tagebüchern seiner Tochter oder Briefen und so verkommt er eher zum Nebendarsteller in einem Buch über sich selbst. Hauptdarsteller ist die Zeit, in der er lebt und Julian Barnes zeichnet ein gelungenes Sittenbild, was aber nicht das ist, was ich erwartet habe und was Klappentext und Buchbeschreibung versprochen haben. Mir lag das Buch daher nicht wirklich und ich vergebe drei Sterne.

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