Mittwoch, 30. Juni 2021

Tiefer Fjord - Ruth Lillegraven

„Tiefer Fjord“ heißt Ruth Lillegravens bereits 2018 erschienener Thriller, der im Original „Alt er mitt“, also „Alles gehört mir“ heißt. Mit diesem Buch hat die Autorin, die bis dato eher mit Gedichtbänden von sich reden gemacht hat, einen Krimi der Spitzenklasse vorgelegt. Der Untertitel der dänischen Fassung lautet „kennst du eigentlich deine Liebsten” und der fasst das Buch für mich sehr gekonnt zusammen. Denn tatsächlich haben die meisten Charaktere große dunkle Geheimnisse, von denen niemand etwas ahnt.
Clara und Haavard sind ein gut situiertes Ehepaar, das mit seinen beiden Söhnen in einer Villa in einem der besseren Osloer Viertel lebt. Während Haavard als Kinderarzt in einem Krankenhaus arbeitet, ist Clara im Justizministerium tätig. Obwohl sie eigentlich Verwaltungsangestellte ist, hat sie politische Ambitionen. Eine ihrer Herzensangelegenheiten ist ein neues Gesetz gegen Kindesmisshandlung, an dessen Entwurf sie arbeitet. Wie wichtig das Gesetz ist, wird auch Haavard klar, als ein Mann mit Migrationshintergrund seinen vierjährigen Sohn ins Krankenhaus bringt. Der kleine Faisal sei vom Baum gefallen, so die Aussage des Vaters, doch die Verletzungen sprechen eine andere Sprache und deuten auf Misshandlung hin. Der Junge überlebt die Verletzungen nicht, der Vater wird kurz darauf erschossen auf dem Klinikgelände gefunden. Haavard recherchiert in Krankenakten nach weiteren jungen Misshandlungsopfern, die immer wieder wegen Verletzungen behandelt werden und wird fündig. Er legt eine Liste der „Stammgäste“ und der mutmaßlichen Täter an und wenig später wird eine weitere Leiche gefunden, die ebenfalls als Mutter eines misshandelten Kindes auf Haavards Liste stand. Irgendjemand scheint die Kinder rächen zu wollen und Selbstjustiz auszuüben. Und mit Haavard, seiner Frau Clara und seiner Kollegin Sabiya findet sich der Leser unverhofft und plötzlich in einem rasanten Strudel der Ereignisse wieder.
Der Thriller greift viele gesellschaftliche Themen aufgreift: Kindesmisshandlung, Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund, Rassismus, eheliche (Un)Treue und Gefühlskälte sind nur einige der Pfeiler, auf der die Autorin ihre Geschichte aufbaut. Die Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet und bildhaft beschrieben. Ich schwankte als Leser bei fast allen immer wieder zwischen Sympathie und Antipathie, denn tatsächlich haben fast alle Personen hinter einer netten und harmlosen Fassade dunkle und sehr hässliche Geheimnisse.
Die Geschichte an sich ist gut konstruiert und flott geschrieben. Schön finde ich, dass die Autorin auf Umgangssprache und Schimpfworte verzichtet, noch dazu hat der Übersetzer wirklich gute Arbeit geleistet. Die Aufteilung in fünf Teile, die ihrerseits in Unterkapitel gegliedert sind, finde ich sehr gut, zumal jedes Unterkapitel mit dem Namen der Person überschrieben ist, aus deren Perspektive die Passage erzählt wird. Und nicht nur, dass die Geschichte aus der Sicht verschiedener Personen erzählt wird, sie spielt auch in zwei Zeitebenen, 1988 und 2015 – ein wirklicher Kunstgriff der Autorin, der der Leserschaft durch die Wechsel der Handlungsstränge einerseits nötige Hintergrundinformationen liefert, andererseits eben dadurch auch enorme Spannung (und etwas Verwirrung) aufbaut. Ich konnte das Buch jedenfalls kaum aus der Hand legen, so gespannt war ich darauf, zu erfahren, wie es weitergeht.
Die Geschichte hat einen verhältnismäßig konstanten Spannungsbogen, vor allem ab etwa der Hälfte nimmt die Handlung mächtig Fahrt auf. Obwohl nach einigen falschen Fährten sehr schnell klar ist, wer hinter den Morden steckt, hat mich der Schluss völlig überrascht und mit dem Cliffhanger legt die Autorin die Latte für den nächsten Band sehr hoch. Für mich eine klare Lese-Empfehlung für alle, die gerne richtig gut geschriebene Thriller mit gesellschaftskritischem Bezug lesen. Fünf Sterne.

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