Freitag, 10. September 2021

Finnische Tage - Herman Koch

Der niederländische Schriftsteller Herman Koch war mir bis zur Lektüre seines Romans „Finnische Tage“ unbekannt und das Buch eine Überraschung für mich. Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden, aber kein klassischer Coming-of-Age-Roman, sondern eine autofiktionale Erzählung. Für mich war das Buch interessant, es hat mich gleichermaßen berührt wie verwirrt und lässt mich zwiegespalten zurück.

Kurz vor seinem 18. Geburtstag verliert Herman seine Mutter. Nach dem knapp bestandenen Abitur fährt der dann gerade 19-Jährige 1973 für ein halbes Jahr nach Finnland. Er hat keine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen möchte („Das heißt, ich wusste schon, was ich werden wollte (Schriftsteller nämlich), aber so was hören Väter nicht unbedingt gerne.“), die Reise nach Finnland verschaffte ihm einen Aufschub. Er lernt zwischen der Arbeit auf dem Bauernhof und im Sägewerk die Sprache und viel über sich selbst und das Leben. Fast ein halbes Jahrhundert später fährt er zu einer Buchmesse in Turku und seine Erinnerungen holen ihn ein. An die verstorbene Mutter, die ihn als einzige verstanden hat und den Vater und dessen Freundin, die er schon während der Ehe hatte („Mehr als mein Vater war es meine Mutter gewesen, die immer meine Partei ergriffen hatte. Mein Vater hatte offen an mir gezweifelt, meine Mutter nicht.“).

Obwohl das Buch zweifellos gut geschrieben ist und mich an vielen Stellen berührt hat, war es für mich etwas zu konfus. Aber irgendwie passt es zu den Gedankengängen des Protagonisten, der auch ab und an den roten Faden zu verlieren scheint. („Offenbar hatte ich laut geredet, ohne es zu merken. In den letzten Jahren vergaß ich nicht nur, Rasierer und Unterhosen einzupacken, ich führte auch immer öfter Selbstgespräche.“) Der Autor reiht scheinbar willkürlich Erlebnisse wie auf einer Perlenschnur aneinander. Bei der Einordnung ist er dem keine Hilfe, obwohl er selbst sein Leben erst aus der Distanz des Alters richtig zu verstehen scheint.

Er schreibt sehr bildhaft, ich fühlte mich sowohl in die finnische Einöde mitgenommen („Auf dem Bahnhof von Lieksa fielen die Schneeflocken mit der Geschwindigkeit von Backsteinen. Es waren ihrer sehr viele, und es war ihnen egal, wo sie landeten, sie kannten ihre Aufgabe, sie waren gekommen, die Welt unter einer unerbittlichen weißen Schicht zu begraben.“), wie auch in die Straßen von Baltimore oder Turku. Hauptdarsteller gibt es nur einen: den literarischen Herman. Der Macho, der sich hinter „äußerer Gleichmütigkeit“ und seiner großen Klappe versteckt und viel zu viel trinkt.. Andere Personen werden nicht beschrieben, haben meist keine Namen und werden auf ein paar wenige prägnante Dinge reduziert.

Es ist ein Buch über Verlust, die Suche nach sich selbst und dem Sinn des eigenen Lebens, die persönliche Sturm-und-Drang-Zeit („Es gab keine Gefahr oder besser gesagt: Es gab sie, aber sie war mein Freund – vielleicht der beste Freund, den ich anno 1973 hatte.“) und darüber, wie aus dem schmächtigen Jungen der Schriftsteller wurde, der er immer sein wollte. Ein Buch über einen mit der Zeit schrullig gewordenen Menschen. Aus dem um die Mutter trauernden Jungen („Ich war zwar traurig, meine Welt war zusammengebrochen, aber ich war nicht untröstlich.“) wurde im Laufe der Jahre eine Art Schauspieler („Im Flugzeug hatte ich mich noch mehr oder weniger verhalten wie derjenige, der ich glaubte sein zu müssen.“). Und es ist ein Buch über jemanden, der kein Problem mit Alkohol hat, sehr wohl aber ohne. Der Autor schreibt über literweise Bier und Hochprozentiges, die er im Lauf des Tages konsumiert.

Der Autor schreibt über die Freiheit, Dinge zu erfinden. Wie viel Autobiografisches also im Buch verarbeitet ist, wird wohl ein Geheimnis bleiben. „Alles in allem, wenn ich zurückblicke, habe ich eigentlich eine sehr glückliche Jugend gehabt“, konstatiert der Protagonist. Und wenn ich zurückblicke, hat mich das Buch gut unterhalten und ich vergebe vier Sterne.

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