„Ephraïm Emma Noémie Jacques“. Diese vier Namen stehen auf der Postkarte, die Anne Berests Eltern 2003 erreicht. Die vier Menschen sind ihre Großeltern, ein Onkel und eine Tante. Sie wurden 1942 in Auschwitz ermordet. 16 Jahre später macht sie sich mithilfe ihrer Mutter auf die Suche nach dem Absender der Karte. Sie erfährt viel über die Geschichte der Familie ab 1919, sich selbst und darüber, was „jüdisch sein“ bedeutet. „Die Postkarte“ ist eine auf Tatsachen beruhende berührende Familienchronik, die angesichts der aktuellen politischen Situation nachdenklich macht.
„Wir mögen Juden nicht besonders“. Das bekommt Anne Berests sechsjährige
Tochter Clara auf dem Schulhof zu hören. Der Satz weckt in der Autorin
Erinnerungen an die anonyme Postkarte, die ihre Mutter vor 16 Jahren erhalten
hat. Erst jetzt wird sie neugierig und macht sich auf die Suche nach dem
Absender. Akribisch forscht sie nach. „Diese Menschen waren meine Vorfahren,
und ich wusste nichts über sie. Hätte man mir ihre Porträts gezeigt, hätte ich
sie unter Fremden nicht wiedererkannt. Dafür schämte ich mich.“ „Jüdisch sein“ war in ihrer Familie etwas,
worüber nicht geredet wurde. Mit dem Judentum war sie überwiegend dann
konfrontiert worden, wenn es in Zusammenhang mit Antisemitismus stand. „Etwas
wiederholte sich, so viel stand fest.“
Es ist beeindruckend, wie sich Anne Berest die Chronik ihrer
Familie erarbeitet. Sie zwingt ihre Mutter, sich zu erinnern, führt mit ihr
Gespräche, zu denen sie eigentlich nicht bereit ist und schlägt einen Bogen zum
Antisemitismus im heutigen Frankreich. Ihre Nachforschungen bringen die
Geschichte der Familie Rabinovitch ans Tageslicht. Diese stammte ursprünglich
aus Russland, zog nach der Revolution über Riga nach Palästina und ließ sich 1929
in Frankreich nieder. Sie wollten sich einbürgern lassen, fühlten sich als
Franzosen. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurden Ephraïm, Emma, Myriam, Noémi
und Jacques deportiert und in Auschwitz ermordet. Nur Myriam, die damals schon
aus dem Haus war, konnte sich in Sicherheit bringen. Über ihren Mann Vicente (Sohn
des Künstlers Francis Picabia) und dessen Schwester Jeanine kam sie zur
Résistance, ihre Taten sind in mehreren Büchern erwähnt. Auch Noémie ist in die
Geschichte eingegangen. Sie unterstützte im Lager die Ärztin Adélaïde Hautval,
die in deren Buch „Medizin gegen die Menschlichkeit“ über sie schreibt.
Parallel zur Geschichte ihrer Familie und der Geschichte des
Nationalsozialismus in Frankreich, erfährt Anne Berest viel über sich selbst
und lässt die Leserschaft daran teilhaben. „Ich bin Jüdin, doch ich weiß nichts
über diese Kultur.“ Durch ihre Nachforschungen lernt sie viel über ihre „verborgene
Identität, eine geheimnisvolle Abstammung“. Und dennoch wirft ihr eine Bekannte
vor, sie sie „immer nur dann Jüdin, wenn es dir in den Kram passt.“ Ihr Freund Gérard
toppt die Aussage sogar noch, als er sie eine Antisemitin nennt. Identitätsstiftend
sind für sie auch Namen. „Diese hebräisch klingenden Namen sind wie eine Haut
unter der Haut.“ Anne heißt mit zweitem Vornamen Myriam, ihre Schwester Claire
Noémi. „Unsere Eltern hätten uns vielleicht lieber nicht diese so schwer zu
tragenden Namen aufbürden sollen“. Ihrem zweiten Kind möchte sie daher einen
Namen geben, „der niemandem gehört.“
Stilistisch war „Die Postkarte“ ganz nach meinem Geschmack.
Es ist eine Mischung aus Roman und journalistischer Erzählung. Anne Berest
schreibt bildhaft und lebendig. Durch die verschiedenen Zeitebenen nimmt sie
die Leserschaft mit auf die spannende Suche nach dem Absender der Karte, ihrer
Herkunft und ihrer Identität. Die Karte und wer sie geschickt hat, ist der rote
Faden, der das Buch zusammenhält. Dass zum Schluss das Geheimnis gelüftet wird,
wurde für mich angesichts der berührenden Familiengeschichte und der aktuellen
Brisanz des Themas durch den Rechtsruck der Politik, fast zur Nebensache.
Von mir gibt es keine Lese-Empfehlung, sondern eine
Lese-Aufforderung. Und natürlich fünf Sterne.
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