Montag, 2. November 2020

Ada - Christian Berkel

Ada ist schon Mitte 40, als sie sich wegen ihrer Schlafstörungen 1989 therapeutische Hilfe sucht. Zusammen mit ihrem Therapeuten taucht sie tief in ihr Leben ein, sucht Wurzeln und findet Antworten. So könnte man Christian Berkels neuen Roman „Ada“ sehr kurz zusammenfassen, was der Geschichte natürlich aber nicht gerecht würde. Denn in Berkels zweitem Buch nach „Der Apfelbaum“ steckt noch unglaublich viel mehr.

Ada wurde 1945, kurz vor Kriegsende geboren. Sie war zwar ein Kind der Liebe, aber ungewollt, da sich ihre Mutter Sala sich selbst nicht als Mutter vorstellen konnte. Dazu war Ada eine schwierige Geburt, sie musste mit der Zange geholt werden und dazu hatte sie einen in der Gebärmutter verstorbenen Zwilling, einen sogenannten Fetus papyraceus. Als Ada zwei Jahre alt war, zog ihre Mutter mit ihr nach Argentinien, da sie für sich als Halbjüdin in Deutschland keine Zukunft sah, als Ada knapp neun Jahre alt war, kehrten sie zurück. Schon in Argentinien hatte Ada das Gefühl, nicht dazu zu passen, was nach der Rückkehr nach Deutschland und dem danach folgenden Kulturschock noch viel schlimmer wurde. Bis in ihr Erwachsenenleben sucht Ada beständig ihre Wurzeln und ihre Identität und nicht zuletzt eine Antwort auf die Frage, wer denn eigentlich ihr Vater ist.

Vor fast zwei Jahren habe ich Christian Berkels autobiografischen Roman „Der Apfelbaum“ gelesen, jetzt hat er mit „Ada“ einen fiktiv-autobiografischen zweiten Teil nachgelegt. Sprachlich ist dieses Buch meiner Meinung nach ebenso gelungen wie der Vorgänger. Berkels Stil ist für mich aufgrund seiner gekonnten Wortwahl, seiner ausgefeilten Satzkonstruktionen und nicht zuletzt wegen seiner gelungenen Mischung aus Poesie, Nüchternheit und Bildgewalt enorm ansprechend, zumal Witz und Augenzwinkern an den richtigen Stellen nicht zu kurz kommen. Das Tempo ist zum Teil sehr hoch, weshalb es sich empfiehlt, die Geschichte langsam und gründlich zu lesen, damit erspart man sich das Zurückblättern, wenn man plötzlich den Faden verloren hat.

Inhaltlich ist das Buch mehr als eine melancholische, manchmal erschreckend düstere Identitätssuche. Es ist auch mehr als eine (fiktive) Biografie. Der Roman zeigt vielmehr kaleidoskopartig Facetten wie Erziehung und Psychologie, Politik und Zeitgeschichte, dazu Elemente aus Coming-of-Age-Romanen samt Drogenerfahrungen, Abnabelung von der Familie und Selbstfindung und die Probleme, die das Schweigen der Kriegsgeneration für die nachfolgenden Generationen mit sich brachte. Ada sitzt zwischen allen möglichen Stühlen. Nicht argentinisch, nicht deutsch, nicht jüdisch, nicht christlich, von der Mutter eher prüde erzogen – sie weiß nicht wer sie ist, was sie ist und wo sie dazugehört. In vielem ist sie (wie diejenigen, die „Der Apfelbaum“ gelesen haben, sicher bemerkt haben) ihrer Mutter ähnlicher, als sie ahnt. Hätten ihre Eltern einige Themen besprochen, statt sie „totzuschweigen“, hätte sich vermutlich einiges für Ada anders entwickelt, nicht zuletzt sie selbst.

Berkel schreibt als Mann aus Sichtweise einer Frau, was ihm selbst bei Themen wie Menstruation, Abtreibung und Fehlgeburt hervorragend gelingt. Sein alter Ego im Buch ist wohl Sputnik, Adas eher anonymbleibende kleine Bruder. Der wurde, genauso wie der Autor, 1957 geboren. Allerdings hat Berkel keine große Schwester, wohl aber einen großen Bruder. Dadurch ist „Ada“ sowohl biografisch als auch fiktiv, eine gekonnte Mischung aus tatsächlicher Familiengeschichte, Zeitgeschichte und Fiktion.

Für mich bleibt es allerdings etwas hinter „Der Apfelbaum“ zurück, was es aber nicht zu einem schlechten Buch macht. Mir sind nur manche Abschnitte zu langatmig, andere aber zu kurz beschrieben. Da gewichtet der Autor anders, als ich es mir gewünscht hätte. Aber trotzdem freue ich mich jetzt schon auf den dritten Teil, der wohl schon in Arbeit ist und vergebe aufgrund der hervorragenden Sprache und der zum Großteil ebenso hervorragend erzählten Geschichte und als Dank für einige Stunden Lesegenuss 5 Sterne.

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