Sonntag, 29. November 2020

Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten - Martin Schörle

„Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten“ ist der Titel des ersten Theaterstücks von Martin Schörle aus dem gleichnamigen Buch. Den zweiten Teil („Einladung zum Klassentreffen“) betrachte ich weiter unten.

Hans Fredenbek ist Beamter, einer „wie er überall vorkommen kann“. Ende 40, verheiratet (hauptsächlich mit seinem Beruf, aber auch mit seiner Gattin Mary), Hektiker, Chaot und alles in allem schlicht ein sehr anstrengender Zeitgenosse. Und etwas anstrengend fand ich auch den Einstieg in das Theaterstück, das dann aber sehr schnell sehr packend wird. Über den Inhalt möchte ich mich gar nicht auslassen, denn der ist – wie Fredenbek selbst – chaotisch, durcheinander und kommt von Hölzchen auf Stöckchen und rauscht mehrfach mit der Kirche ums Dorf. Denn Fredenbek denkt vielschichtig, in der Hoffnung, „alle eventuell eintretenden Szenarien vorherzusehen, um sie zu vermeiden oder zu seinen Gunsten zu wenden“. Spoiler: das gelingt ihm nicht.

Fredenbek bespielt das Stück fast vollständig allein, andere Charaktere kommen allerhöchstens am Rand vor, manche werden auch nur erwähnt. Sein innerer Monolog samt Regieanweisungen machen das Stück praktisch aus. Er kommt mir wie eine wilde Mischung aus Monk, Forest Gump und der Hauptfigur aus Stefan Zweigs „Schachnovelle“ vor – so pedantisch, aber nicht so genial. Sympathisch ist mir Fredenbek nicht. Dazu kommt mir das alles viel zu bekannt vor, da ich aus einer Beamtenfamilie stamme. Allein die Sache mit den Radiergummis – da sah ich meinen Opa (Postbeamter) direkt vor mir. Fehlten nur noch die in Reih und Glied liegenden, messerscharf angespitzten Bleistifte, das Stempelkissen, der Schwamm für die Briefmarken und und und.

So dröge das Thema auf den ersten Blick scheinen mag, so fesselnd wird das Stück nach und nach. Kompositorisch erinnerte es mich ein bisschen an ein Musikstück. Es fängt ganz gemächlich (adagio) an, nimmt dann „andantemäßig“ Fahrt auf, gipfelt in einem Presto, das so schnell ist, dass man fast nicht hinterherkommt und endet mit einem kräftigen Paukenschlag und 5 Sternen von mir.



Der zweite Teil von Martin Schörles Buch ist „Einladung zum Klassentreffen“. Anders als im ersten Stück spielen hier mehrere Personen mit, die „Handlung“ passiert in dialogischer Form. Carsten (er) möchte Marina (sie) zum Klassentreffen anlässlich ihres 20jährigen Abiturjubiläums einladen. Man schwelgt am Telefon gemeinsam in Erinnerungen, es kochen alte Freund- und Feindschaften hoch und Klassenkameraden werden auch nach all der Zeit noch mit den alten (eher abwertenden und hässlichen) Klischees beschrieben. „Der Komische“, „Diese menstruell überreizte Krawallnudel“ und so weiter zeigen ganz klar, wie toll die Protagonisten selber sind. Oder waren. Oder auf jeden Fall, dass sie sich für toll, überlegen und unfehlbar halten. Solche Mitschüler hatte vermutlich jeder der Leser/Zuschauer zu Schulzeiten.

Carsten sieht die gemeinsame Vergangenheit allerdings deutlich verklärter als Marina. „Wir waren authentisch“ – mit diesen Worten beschreibt er eine durchzechte und durchkiffte Nacht, an die Marina ganz andere Erinnerungen hat, als er. „Erinnerungen müssen Erinnerungen bleiben“, damit zeigt Marina eigentlich ganz deutlich, dass sie mit dem Thema abgeschlossen hat. Allerdings breitet sie nach und nach ihr komplettes Leben vor Carsten aus. Und vor den Mitreisenden im Zug. Hier feiere ich am meisten die Dame im Nebenabteil, die sich ab und zu ins Gespräch einmischt. Sie hat es echt verstanden und hält mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg.

Wie auch im ersten Stück sind die Charaktere sehr speziell. Und auch speziell beschrieben. Natürlich legen sie Eigenheiten an den Tag, die man verwerflich nennen kann. Marinas ex-Mann Holger nennt sie in seinem Auftritt „Kleines“, was durchaus als Sexismus zu betrachten ist. Auch die Beschreibungen der ehemaligen Klassenkameraden sind nicht wirklich nett. Allerdings ist das leider Alltag für viele und daher ist der Autor keineswegs zu verurteilen, weil er es beschreibt. Toxische Männlichkeit und Mobbing verschwinden nicht, wenn es in keinem Buch/Theaterstück vorkommt. Mord, Totschlag und andere Verbrechen würde es ja auch weiterhin geben, auch wenn es keine Krimis und Thriller mehr gäbe und die Autoren sind ja auch keine heimlichen (Massen)Mörder. Da hat der Autor für mich eine feine Antenne bewiesen, indem er dies klar herausgearbeitet beschreibt, für mich ist das schlicht authentisch.

Im zweiten Stück ist die Sprache sehr alltagsnah, man merkt, dass sich da zwei alte Freunde unterhalten. Ein gewisser Witz ist vorhanden, aber auch einige Dinge, über die ich den Kopf geschüttelt habe, zum Beispiel, wie Carsten an Marinas Telefonnummer gekommen ist (über die Schulsekretärin und einen Klassenkameraden beim Meldeamt), da haben sich mir angesichts der DSGVO die Nackenhaare gesträubt. Ein paar Stellen sind witzig-skurril im Ausdruck, beispielsweise als Carsten eine Fernsehserie nicht kennt und ihm alle Charaktere unbekannt sind („Allesamt völlig unbekannt, vor allem Ziva.“ – wenn alle unbekannt sind, dann gibt es kein „vor allem“!)

Für mich sind auf jeden Fall beide Stücke etwas, das das Leben schreiben könnte und im Falle des Klassentreffens vermutlich auch immer wieder tut. Daher auch für das zweite Stück von mir beide Daumen hoch und ich würde beide Stücke gerne mal auf der Bühne sehen. 5 Sterne.

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