Henry Markrams Welt gerät aus den Fugen. Der eigentlich tief
in der Objektivität der Wissenschaft verwurzelte Hirnforscher wird mit dem
Autismus seines Sohnes Kai konfrontiert und gerät dabei immer wieder an seine
Grenzen – persönlich, emotional und auch wissenschaftlich.
Sehr früh bemerken die Eltern, dass ihr Sohn anders ist, als
andere Kinder. Besonders. Aber als sie nach einer Odyssee über ADS-Diagnosen
bei der Diagnose „Autismus“ landen, sind sie doch mehr als schockiert. Denn was heißt das denn überhaupt?
Der Autor erklärt am Beispiel von Kai und seiner Familie,
was Autismus in dessen Fall bedeutet (denn: kennst du einen Autisten, dann
kennst du genau EINEN Autisten). Der Leser erfährt (wenn er das nicht schon
vorher wusste), dass Autisten keinen Mangel an Gefühl, Sensibilität oder Aufmerksamkeit
haben, sondern vielmehr auf eine extreme Reizüberflutung mit sehr hoher
Sensitivität reagieren, der Rückzug ist daher keine Störung, sondern eine Art
Selbstschutz, bevor es zu Overloads oder Meltdowns kommt.
Das Buch ist eine Aufforderung an die Leser (aber irgendwie
an alle Menschen), Anderssein zu akzeptieren und die jeweiligen Stärken und
Schwächen zu sehen und zu verstehen.
Aber insgesamt liest sich das Buch etwas holprig. Es ist
zwar eine sehr nette „human touch“ Geschichte aber es sind auch relativ große
Zeitsprünge drin und alles in allem fand ich es zum Teil etwas verwirrend. Es
ist irgendwie nichts Ganzes und nichts Halbes – keine wissenschaftliche
Abhandlung und kein Roman/Biografie und auch keine Reportage.
Medizinisch fand ich die Ansätze von Henry Markram teilweise
sehr interessant. Psychologisch fand ich sie zum Teil aber befremdlich. Vor
allem die Aussage, dass Autismus durch die bewusste reizarme Umgebung in den
ersten sechs Lebensjahren vermieden (also bestehender Autismus dadurch geheilt)
werden kann, halte ich für fragwürdig. Dafür ist Autismus zu komplex und die
ersten Lebensjahre prägen den Menschen zu sehr (Sprachentwicklung,
Sozialisierung usw), als dass er ihn in einer völlig reizarmen Umgebung
zubringen sollte. Mal ganz abgesehen davon, dass diese Möglichkeit wohl den
wenigsten Familien mit einem Kind im autistischen Spektrum gegeben ist.
Da ist ein differenzierterer Ansatz eher angebracht.
Insgesamt finde ich es aber ein sehr wichtiges Buch für
alle, die mit Autisten zu tun haben oder sich mit dem Thema fundiert
auseinandersetzen wollen. Ein wichtiges, schwieriges Thema
populärwissenschaftlich aufgearbeitet und entlang der Familiengeschichte eines
bekannten Wissenschaftlers erzählt. Ursprünglich war das Buch eine Reportage in
der Süddeutschen Zeitung, jetzt wurde sie zum Buch aufgeblasen. Wohlwollende 3
Sterne.
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