Sonntag, 6. Januar 2019

Der Junge, der zu viel fühlte - Lorenz Wagner


Henry Markrams Welt gerät aus den Fugen. Der eigentlich tief in der Objektivität der Wissenschaft verwurzelte Hirnforscher wird mit dem Autismus seines Sohnes Kai konfrontiert und gerät dabei immer wieder an seine Grenzen – persönlich, emotional und auch wissenschaftlich.
Sehr früh bemerken die Eltern, dass ihr Sohn anders ist, als andere Kinder. Besonders. Aber als sie nach einer Odyssee über ADS-Diagnosen bei der Diagnose „Autismus“ landen, sind sie doch mehr als schockiert.  Denn was heißt das denn überhaupt?
Der Autor erklärt am Beispiel von Kai und seiner Familie, was Autismus in dessen Fall bedeutet (denn: kennst du einen Autisten, dann kennst du genau EINEN Autisten). Der Leser erfährt (wenn er das nicht schon vorher wusste), dass Autisten keinen Mangel an Gefühl, Sensibilität oder Aufmerksamkeit haben, sondern vielmehr auf eine extreme Reizüberflutung mit sehr hoher Sensitivität reagieren, der Rückzug ist daher keine Störung, sondern eine Art Selbstschutz, bevor es zu Overloads oder Meltdowns kommt.
Das Buch ist eine Aufforderung an die Leser (aber irgendwie an alle Menschen), Anderssein zu akzeptieren und die jeweiligen Stärken und Schwächen zu sehen und zu verstehen.
Aber insgesamt liest sich das Buch etwas holprig. Es ist zwar eine sehr nette „human touch“ Geschichte aber es sind auch relativ große Zeitsprünge drin und alles in allem fand ich es zum Teil etwas verwirrend. Es ist irgendwie nichts Ganzes und nichts Halbes – keine wissenschaftliche Abhandlung und kein Roman/Biografie und auch keine Reportage.
Medizinisch fand ich die Ansätze von Henry Markram teilweise sehr interessant. Psychologisch fand ich sie zum Teil aber befremdlich. Vor allem die Aussage, dass Autismus durch die bewusste reizarme Umgebung in den ersten sechs Lebensjahren vermieden (also bestehender Autismus dadurch geheilt) werden kann, halte ich für fragwürdig. Dafür ist Autismus zu komplex und die ersten Lebensjahre prägen den Menschen zu sehr (Sprachentwicklung, Sozialisierung usw), als dass er ihn in einer völlig reizarmen Umgebung zubringen sollte. Mal ganz abgesehen davon, dass diese Möglichkeit wohl den wenigsten Familien mit einem Kind im autistischen Spektrum gegeben ist.
Da ist ein differenzierterer Ansatz eher angebracht.
Insgesamt finde ich es aber ein sehr wichtiges Buch für alle, die mit Autisten zu tun haben oder sich mit dem Thema fundiert auseinandersetzen wollen. Ein wichtiges, schwieriges Thema populärwissenschaftlich aufgearbeitet und entlang der Familiengeschichte eines bekannten Wissenschaftlers erzählt. Ursprünglich war das Buch eine Reportage in der Süddeutschen Zeitung, jetzt wurde sie zum Buch aufgeblasen. Wohlwollende 3 Sterne.

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