Bewegende und bewegte Familiengeschichte
Er fühlte sich als Kind wohl als nichts Ganzes und nichts
Halbes, so kommt es einem vor, wenn man in die Lebens- und Familiengeschichte
des Schauspielers Christian Berkel einsteigt. Und er nimmt den Leser mit auf
eine Reise in seine Vergangenheit, die Vergangenheit seiner Eltern, auf die
Suche nach seinen Wurzeln und seiner Identität.
Akribisch und analytisch, neutral und nie wertend springt
der Autor durch die Jahre vor seiner Geburt, dokumentiert die Erinnerungen
seiner Mutter, der einzigen, die sich daran noch erinnern kann. Aber dabei ist
es auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Seine Mutter ist zu dem Zeitpunkt, als er
anfängt zu schreiben schon hochbetagt und zunehmend dement.
Aber mit ihrer Hilfe (und der Recherche in Archiven und
Schriftwechseln) schafft Christian Berkel ein großes Werk. Keine Biographie und
keine Autobiographie. Sondern ein Familien-Epos, zusammengestrickt wie ein
Flickenteppich aus bruchstückhaften Erinnerungen der Mutter (die sich an vieles
gar nicht mehr erinnern will, an vieles aber nicht erinnern kann) zu einem
stimmigen Ganzen und dann auch noch in einer äußerst ansprechende Form
formuliert.
Natürlich kennt der Leser den Schluss. Denn es ist die
Geschichte des Autoren, Jahrgang 1957 - also müssen die beiden Hauptfiguren
Sala und Otto irgendwann irgendwie zusammenkommen. Aber der Weg ist ein
bewegter und bewegender.
Seine Mutter Sala lernt 1932 mit 13 Jahren, den vier Jahre
älteren Otto kennen, als dieser in ihr Elternhaus einbricht. Später kreuzen
sich ihre Wege, als ihr Vater den mittellosen Otto unter seine Fittiche nimmt
und ihm eine Welt aus Büchern und Bildung eröffnet, die der wissbegierige junge
Mann nur zu gerne betritt. Schließlich bringt Otto, der Junge aus dem Berliner
Hinterhaus, es sogar zum Arzt.
Danach trennten sich ihre Wege. Die Halbjüdin Sala verlässt
1938 Deutschland, Otto zieht als Arzt in den Krieg und endet in russischer
Kriegsgefangenschaft. Sala ist jahrelang auf der Flucht. Über Spanien und
Frankreich endet sie im Internierungslager Camp de Gurs. Aber in der ganzen Zeit können Sala und Otto einander
nicht vergessen. Fast unglaublich, dass sie sich nach vielen Jahren
wiederfinden (Sala, inzwischen Mutter der gemeinsamen Tochter, lebte nach dem
Krieg einige Zeit in Argentinien, Otto kehrte nach der Gefangenschaft nach
Berlin zurück) und ihren Lebensweg danach bis zu Ottos Tod gemeinsam gehen.
Interessant fand ich auch, welchen illustren Umgang die
Familie über die Jahrzehnte so pflegte. Eine Tante Salas war Modedesignerin in
Paris und Ausstatterin der Duchess of Windsor, ihr Vater gehörte zum Dunstkreis
von Erich Mühsam, Sigmund Freud und Hermann Hesse.
Das Buch ist keine leichte Kost. Inhaltlich nicht und
sprachlich ganz sicher auch nicht. Berkel wechelt die verschiedenen Zeitebenen
flüssig und schon allein dadurch ist das Buch nichts für „nebenher“, sondern
bedarf Konzentration und man muss sich auf die Geschichte einlassen. Aber wenn
einem das gelingt, dann lebt man das im Buch geschilderte Leben der Personen
ein Stück weit mit, die Charaktere werden so authentisch, lebensnah,
liebenswert und dreidimensional geschildert. Und die Geschichte ist auch heute,
in Zeiten, in denen die Gesellschaft sich wieder nach rechts bewegt,
erschreckend aktuell. Es ist eine Geschichte über wahre und unendliche Liebe
gegen alle Widrigkeiten, Standes- und Landesgrenzen hinweg, über Glück und
Zufälle, erzählt mit einem Augenzwinkern und oft einer Träne im Knopfloch.
Sollte Christian Berkel, ebenso wie seine Ehefrau Andrea
Sawatzki, Gefallen an der Schriftstellerei gefunden haben, hat er sich selbst die
Messlatte mit diesem Buch extrem hochgelegt. An dieses Werk heranzukommen wird
schwierig.
Ich bedanke mich bei NetGalley dafür, dass ich das Buch
lesen durfte und beim Autor dafür, dass er mich auf die Reise in seine
Vergangenheit mitgenommen hat. Es war mir ein Fest. 5 Sterne
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