Mittwoch, 30. Januar 2019

Der Apfelbaum - Christian Berkel


Bewegende und bewegte Familiengeschichte

Er fühlte sich als Kind wohl als nichts Ganzes und nichts Halbes, so kommt es einem vor, wenn man in die Lebens- und Familiengeschichte des Schauspielers Christian Berkel einsteigt. Und er nimmt den Leser mit auf eine Reise in seine Vergangenheit, die Vergangenheit seiner Eltern, auf die Suche nach seinen Wurzeln und seiner Identität.

Akribisch und analytisch, neutral und nie wertend springt der Autor durch die Jahre vor seiner Geburt, dokumentiert die Erinnerungen seiner Mutter, der einzigen, die sich daran noch erinnern kann. Aber dabei ist es auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Seine Mutter ist zu dem Zeitpunkt, als er anfängt zu schreiben schon hochbetagt und zunehmend dement.
Aber mit ihrer Hilfe (und der Recherche in Archiven und Schriftwechseln) schafft Christian Berkel ein großes Werk. Keine Biographie und keine Autobiographie. Sondern ein Familien-Epos, zusammengestrickt wie ein Flickenteppich aus bruchstückhaften Erinnerungen der Mutter (die sich an vieles gar nicht mehr erinnern will, an vieles aber nicht erinnern kann) zu einem stimmigen Ganzen und dann auch noch in einer äußerst ansprechende Form formuliert.
Natürlich kennt der Leser den Schluss. Denn es ist die Geschichte des Autoren, Jahrgang 1957 - also müssen die beiden Hauptfiguren Sala und Otto irgendwann irgendwie zusammenkommen. Aber der Weg ist ein bewegter und bewegender.

Seine Mutter Sala lernt 1932 mit 13 Jahren, den vier Jahre älteren Otto kennen, als dieser in ihr Elternhaus einbricht. Später kreuzen sich ihre Wege, als ihr Vater den mittellosen Otto unter seine Fittiche nimmt und ihm eine Welt aus Büchern und Bildung eröffnet, die der wissbegierige junge Mann nur zu gerne betritt. Schließlich bringt Otto, der Junge aus dem Berliner Hinterhaus, es sogar zum Arzt.

Danach trennten sich ihre Wege. Die Halbjüdin Sala verlässt 1938 Deutschland, Otto zieht als Arzt in den Krieg und endet in russischer Kriegsgefangenschaft. Sala ist jahrelang auf der Flucht. Über Spanien und Frankreich endet sie im Internierungslager Camp de Gurs.  Aber in der ganzen Zeit können Sala und Otto einander nicht vergessen. Fast unglaublich, dass sie sich nach vielen Jahren wiederfinden (Sala, inzwischen Mutter der gemeinsamen Tochter, lebte nach dem Krieg einige Zeit in Argentinien, Otto kehrte nach der Gefangenschaft nach Berlin zurück) und ihren Lebensweg danach bis zu Ottos Tod gemeinsam gehen.

Interessant fand ich auch, welchen illustren Umgang die Familie über die Jahrzehnte so pflegte. Eine Tante Salas war Modedesignerin in Paris und Ausstatterin der Duchess of Windsor, ihr Vater gehörte zum Dunstkreis von Erich Mühsam, Sigmund Freud und Hermann Hesse.
Das Buch ist keine leichte Kost. Inhaltlich nicht und sprachlich ganz sicher auch nicht. Berkel wechelt die verschiedenen Zeitebenen flüssig und schon allein dadurch ist das Buch nichts für „nebenher“, sondern bedarf Konzentration und man muss sich auf die Geschichte einlassen. Aber wenn einem das gelingt, dann lebt man das im Buch geschilderte Leben der Personen ein Stück weit mit, die Charaktere werden so authentisch, lebensnah, liebenswert und dreidimensional geschildert. Und die Geschichte ist auch heute, in Zeiten, in denen die Gesellschaft sich wieder nach rechts bewegt, erschreckend aktuell. Es ist eine Geschichte über wahre und unendliche Liebe gegen alle Widrigkeiten, Standes- und Landesgrenzen hinweg, über Glück und Zufälle, erzählt mit einem Augenzwinkern und oft einer Träne im Knopfloch.

Sollte Christian Berkel, ebenso wie seine Ehefrau Andrea Sawatzki, Gefallen an der Schriftstellerei gefunden haben, hat er sich selbst die Messlatte mit diesem Buch extrem hochgelegt. An dieses Werk heranzukommen wird schwierig.
Ich bedanke mich bei NetGalley dafür, dass ich das Buch lesen durfte und beim Autor dafür, dass er mich auf die Reise in seine Vergangenheit mitgenommen hat. Es war mir ein Fest. 5 Sterne

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