Mittwoch, 22. April 2020

Der Wundertäter - Erwin Strittmatter

„Der Wundertäter“ von Erwin Strittmatter ist vermutlich eines der umfangreichsten Werke, die ich je gelesen habe – wenn nicht das umfangreichste überhaupt. Mehr als 1500 Seiten lang begleitet man als Leser Stanislaus Büdner durch sein Leben, aufgeschrieben in drei Teilen. Er wird 1909 in eine ärmliche Familie hineingeboren und sein Vater versucht ihn schon als Kind als „Wundertäter“ zu vermarkten. Später beginnt er seine Lehr- und Wanderjahre als Bäckerlehrling, liebt mal die eine, mal die andere, wechselt häufig die Gesellenstellen und nach dem Krieg verdingt er sich an den verschiedensten Orten in den verschiedensten Berufen und endet in der DDR. Immer wieder flammt sein Wunsch auf, Dichter zu werden, bis er zuletzt seine Erinnerungen zu Papier bringt. Trotz seines angefangenen Fernstudiums ist und bleibt Büdner ein schriftstellerischer Autodidakt, ein autobiografisches Element, denn auch Strittmatter hatte eine Bäcker-Lehre abgeschlossen, aber keine Ausbildung genossen, die ihm als Grundlage für seine Autoren-Tätigkeit diente.

Das Buch ist wohl eines der meistdiskutierten Werke der Literaturgeschichte und sowohl im Umfang als auch in der Sprache keine leichte Lektüre. Die Sprache ist die der Zeit, in der das Buch spielt, aus heutiger Sicht also eher altbacken und überholt, gewöhnungsbedürftig, aber durchaus passend. Der Autor schreibt bildgewaltig und jedes einzelne Wort scheint gut überlegt und keines ist zufällig. Selbst die Namen der unwichtigsten Nebencharaktere haben in sich eine Aussage, passend zu Aussehen, Stellung oder Beruf der Person. Auch die Worte, derer sich Strittmatter bedient, sind grandios. Eine Mischung aus wunderbar und sonderbar, aber immer stimmig.

Spannung gibt es in dem Buch kaum, was aber nicht heißt, dass es langweilig ist. Es ist ein Epos, ein Jahrhundertroman. Voller Zeit- und Gesellschaftskritik, dazu hat es Elemente eines Liebes- und eines Schelmenromans. Eine wilde und bunte Mischung aus literarischen Stilen, passend zu der wilden und bunten Mischung der Personen. Protagonist Stanislaus ist ein interessanter Charakter. Irgendwo zwischen naiv und gerissen, einfältigem Tölpel und gut- und leichtgläubigem Trottel. Natürlich altert er im Lauf der Geschichte (man liest nur ab und zu und im Kontext heraus, dass wieder ein Jahr vergangen ist oder zum Beispiel, dass er inzwischen eine Halbglatze hat), aber wirklich schlauer wird er nicht. Seine immer wieder aufflammende Liebe zu Literatur und Dichtkunst ist ebenso wie seine ständige Verliebtheit in irgendwelche Frauen durch alle drei Teile präsent. Auch Büdners Verhältnis zu Frauen hat einen autobiografischen Touch. Das Buch ist Strittmatters dritter Frau Eva gewidmet (dem, der mehr über Erwin und Eva Strittmatter lesen möchte, dem sei „Du bist mein zweites Ich“ ans Herz gelegt). Das Buch hat einige Längen, bedingt durch die größtenteils minutiösen Beschreibungen und manches kann man getrost querlesen, ohne den roten Faden zu verlieren. Aber alles in allem fand ich es für ein Buch dieses Umfangs gut zu lesen und auch mit dem „ostdeutschen Flair“ hatte ich keine Schwierigkeiten. Ob es ein literarisches Meisterwerk ist, vermag ich nicht zu beurteilen, Strittmatter ist nicht meine Zeit und nicht meine literarische Welt. Ich fühlte mich gut unterhalten, zum ausgiebigen Nachdenken angeregt und manchmal musste ich herzhaft lachen – die Wortwahl und –Wortschöpfungen des Autors sind zum Teil lustig aber auch immer hintergründig.

Fast 30 Jahre hat der Autor an dem Werk gearbeitet, vieles davon ist vermutlich autobiografisch, so hat beispielsweise auch Strittmatter Bäcker gelernt und die Zeiten, über die er schreibt auch selbst erlebt. In den Zeilen und dazwischen ist viel Kritik, viel Augenzwinkern und zum Teil aber auch Verbitterung zu lesen.

Obwohl ich mich manchmal durchkämpfen musste, finde ich das Buch im Rückblich lesenswert und sowohl einzig- als auch eigenartig. Von mir vier Sterne.

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