Freitag, 18. September 2020

Hamster im hinteren Stromgebiet - Joachim Meyerhoff

Ich muss gestehen, ich kannte vorher weder Joachim Meyerhoff noch seine autobiografische Serie „Alle Toten fliegen hoch“ – trotzdem habe ich mich auf sein neuestes Buch „Hamster im hinteren Stromgebiet“ sehr gefreut, denn der Klappentext hat mich stark angesprochen. Daher kann ich das Buch, das der fünfte Teil der Reihe ist, nur alleine und nicht im Kontext der Serie betrachten.

„Ich überlegte, ob ich lieber einen Herzinfarkt gehabt hätte. Irgendwie schon, befand ich, da das Herz doch einfach eine Pumpe ist und lange nicht so geheimnisvoll wie das Gehirn. Bekommt man halt drei Stents und weiter geht’s.“ - so war es dann aber nicht. Mit 51 Jahren hatte Joachim Meyerhoff einen Schlaganfall. Ohne Vorwarnung war seine linke Körperhälfte plötzlich „wie wegradiert“ und wird zu „tauber Materie“. Seine Erlebnisse hat er in seinem neuesten Buch launig, aber auch sehr nachdenklich aufgearbeitet. Dabei verknüpft er gekonnt die Zeit nach dem Schlaganfall mit Episoden aus seiner Vergangenheit, was mir, der ich weder ihn, noch seine anderen Bücher kannte, das Verständnis enorm erleichterte.

Alles in allem hat mich das Buch sehr überrascht. Meyerhoffs Herangehensweise, sein Umgang mit dem Schlaganfall hat mich beeindruckt. So ist sein Buch eine Mischung aus Humor, Galgenhumor und sehr ernsten Gedanken. Lustig fand ich zum Teil auch die abenteuerlichen Wege, auf die sich seine Gedanken gemacht haben. „Was mich allerdings befremdete, war nicht so sehr die Tatsache, dass ich fünfzig geworden war, sondern dass viele, wenn nicht sogar alle meine Körperteile und Organe ebenfalls dieses Alter erreicht hatten. Auch meine Nieren, meine Lunge, meine Leber, ja sogar mein Gehirn waren jetzt fünfzig. Der Gedanke an meine fünfzig Jahre alten Pobacken erfüllte mich mit Schrecken.“ Vor allem in den schlaflosen Nächten wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit. So schreibt er über seinen Bruder, der mit 21 Jahren starb, seine drei Kinder und Reisen, die er unternommen hat, unternimmt nachts im Krankenhaus „Weltreisen auf engstem Raum“. „Vielleicht war an Reisen zu denken ein probates Mittel, meine Ängste zu domestizieren, überlegte ich und trank einen Schluck kalten Früchtetee, der wie verflüssigte Depression schmeckte.“

Das Inhaltsverzeichnis irritierte mich zuerst sehr. Aber tatsächlich passen die wirren Fragmente als Überschriften dann ganz hervorragend zu den Kapiteln und auch der kryptisch anmutende Titel klärt sich auf. Und sowohl Kapitel als auch Titel schaffen ganz klar eines: Neugierde auf das Buch! Das Buch selbst ist eine Mischung aus Autobiografie und, wenn man so will, einer Art Abenteuerroman. Denn die Erlebnisse des Autors im Krankenhaus bzw. der Stroke Unit, sind tatsächlich zum Teil abenteuerlich. Die Sprache ist detailgetreu bildhaft und fast poetisch, und, obwohl es manchmal etwas kompliziert geschrieben ist, fand ich das Buch ganz hervorragend zu lesen. Manche Gedankengänge brachten mich (trotz der eigentlichen Dramatik der Geschichte – immerhin ist ein Schlaganfall kein Schnupfen) heftig zum Lachen. Andere hinterließen mich sehr nachdenklich. „Wann war uns das Staunen über den Fortschritt abhandengekommen? Und wann, fragte ich mich, war die Dankbarkeit darüber, dass Dinge funktionierten, zum bloßen Anspruch verkommen?“ Der Autor kommt mit seinen Gedankenwanderungen ganz schön rum, aber bevor er den roten Faden verliert, findet er immer wieder zurück zum eigentlichen Thema. Da er in einem österreichischen Krankenhaus lag, schreibt er bisweilen auf Österreichisch. Manche Sätze habe ich mir (zur Verwirrung meines Umfelds) laut vorgelesen, dann hatte ich (als gebürtiger Schwabe) aber kein Problem mehr, Sätze wie „Ist die linke Seite noch sehr bamstig?“ zu verstehen. Mich hat das Buch also trotz des ernsten Themas hervorragend unterhalten und ich vergebe 5 Sterne.

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