Freitag, 18. September 2020

Herzfaden - Thomas Hettche

Ein Buch, das direkt ins Herz geht – die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und noch vieles mehr

Als Kind 1970er bin ich mit den Stücken der Augsburger Puppenkiste aufgewachsen. Ob nun „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ oder „Urmel aus dem Eis“ – die Stücke waren ein Teil meiner Kindheit. In seinem Buch „Herzfaden“ hat Thomas Hettche die Geschichte der Augsburger Puppenkiste mit der Geschichte ihrer Begründer verflochten, lässt sie die (verstorbene) Hannelore (Hatü) Oehmichen selbst erzählen. Sie erzählt sie auf dem Dachboden ihres Theaters einem 12jährigen Mädchen, das sich dahin verlaufen hat.

So erzählt die Tochter des Theatergründers Walter Oehmichen von ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, der Begeisterung ihres Vaters für Marionetten und wie sie selbst während der Kinderlandverschickung ihre erste Marionette geschnitzt hat. Sie berichtet über die Anfänge des Theaters nach dem Krieg, den ersten Stücken, die die Truppe aufgeführt hat und wie daraus Filme fürs Fernsehen wurden. Das Mädchen, das namenlos bleibt, erzählt von der Scheidung ihrer Eltern, ihrer Traurigkeit und Angst und dem Gefühl der Verlorenheit. Zu Wort kommen auch Prinzessin Li Si, das Urmel, der kleine Prinz und viele weitere Marionetten, nicht zuletzt der Kasper, Hatü Oehmichens erste selbst geschnitzte Marionette.

Der Leser erfährt im Verlauf der Geschichte nicht nur sehr viel über die Augsburger Puppenkiste, sondern auch um das Drumherum. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkrieges, Bomben fallen, Menschen werden verwundet oder sterben, andere verschwinden von heute auf morgen und kommen nie zurück. Familien verlieren Väter, Söhne, Brüder, ihr Zuhause, ihre wirtschaftliche Grundlage. So ging es auch Familie Oehmichen, der Vater hatte als ehemaliger Landesleiter der Reichstheaterkammer große Probleme, entnazifiziert zu werden und durfte lange nicht arbeiten. Aber seine Hingabe zum (Marionetten)Theater blieb und er schuf erst den Puppenschrein, der 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, und später die Puppenkiste.

Das Buch ist eine sehr gekonnte Mischung aus Fakten und Fantasie, eine Art sehr schön erzähltes Märchen. Die Sprache, derer sich der Autor bedient ist bildhaft, die Passagen, in denen Hatü erzählt, sind in eher altmodischeren Worten, die „Kinder-Passagen“, aus Sicht des Mädchens, moderner. Da darf natürlich auch das iPhone nicht fehlen, obwohl ich mich beim Lesen gefragt habe, ob es denn explizit als solches erwähnt sein musste, und ob es nicht ein „Smartphone“ getan hätte.

Puppentheater ist kein Kinderkram, sondern kann durchaus auch für Erwachsene eine echte Bereicherung sein. Walter Oehmichen unterhielt an der Front Kameraden mit Stücken, die er mit Marionetten spielte. „„Als der Krieg vorbei war, sagte ich mir: Je stärker ich die Menschen aus dem Elend entführen kann, desto mehr helfe ich ihnen.““ Außerdem ist die Uneitelkeit im Puppentheater etwas, über das ich selbst vorher noch nie nachgedacht habe. „„Wir Marionettenspieler verschwinden im Dunkeln. Ich werde eure Namen nicht im Programmheft nennen. Wir werden reinschreiben, wer die Bühne gebaut, wer die Kostüme genäht, wer die Puppen geschnitzt und wer die Musik gemacht hat, aber die Sprecher und Puppenführer werden nicht genannt. Es geht nur um die Geschichte.““

Nicht genannt wird auch der Name des Mädchens, der die Geschichte erzählt wird. Es bleibt anonym, trotzdem ist es für die Geschichte unverzichtbar. Der „Herzfaden“, der dem Buch seinen Namen gibt, war für Oehmichen der Faden „zwischen der Marionette und dem Zuschauer, auf den es ankommt“. Mich hat die Geschichte gefesselt und ich konnte das Buch bis zum letzten Wort nicht aus der Hand legen. Es ist für mich zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Von mir 5 Sterne.

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