Donnerstag, 21. Januar 2021

Unter dem Nordlicht - Manuel Menrath

Kanada ist für viele ein Wohlfühl- oder Sehnsuchtsort, bei dem man an eine offene und liberale Gesellschaft, das „bessere Amerika“, denkt. Zumindest hört und liest man das immer wieder. Aber ganz so ist es nicht. Manuel Menrath beleuchtet in seinem Buch „Unter dem Nordlicht- Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land“ die eher unrühmlichen Aspekte der Geschichte des Landes. Heute leben „auf dem kanadischen Territorium 634 vom Staat anerkannte indianische „Stammesgemeinschaften“, die offiziell als First Nations bezeichnet werden und die etwa 3000 Reservate besitzen.“ Dennoch treten die Angehörigen indigene Völker heute in Kanada kaum in Erscheinung, ihr Beitrag zur Geschichte des Landes wird meist schlicht ignoriert oder „vergessen“. „So entsteht der Eindruck, alles, was vorher (also vor der Besiedelung durch die Europäer) gewesen war, sei bedeutungslos.“

Manuel Menrath sieht dies anders und rollt die Geschichte der indigenen Bevölkerung Kanadas minutiös auf. Er schreibt eindrucksvoll über ihr heutiges Leben und wie es dazu kam, dass stolze und friedliche Stämme, die jahrhundertelang im Einklang mit der Natur gelebt hatten, nach und nach von den „weißen Herrenmenschen“ in Reservate verbannt wurden. Er schreibt über Zwangassimilation, darüber, wie Eltern ihre Kinder weggenommen wurden, um sie „gesellschaftsfähig“ zu machen (die Kinder wurden auf christliche Schulen, sogenannte „residential schools“ geschickt, oft misshandelt und gequält und gezwungen, alles „Wilde“ abzulegen) – die Konsequenz war oft ein Gefühl der Entwurzelung, Verzweiflung und führte in vielen Fällen zu Alkoholismus und/oder Selbstmord.

Die Erlebnisse haben in der indigenen Bevölkerung teils bis in die heutigen Generationen Auswirkungen. In den meisten Ländern, die kolonialisiert wurden, kann man diese Aus- und Nachwirkungen betrachten. Sei es in den USA, Australien oder auch in Grönland. Zwar haben sich die meisten Regierungen inzwischen für das begangene Unrecht entschuldigt (oder besser: sie baten um Entschuldigung), aber wirklich viel hat sich für die Betroffenen nicht verändert, denn manche Dinge kann man einfach nicht entschuldigen oder rückgängig machen. Denn zu den Spätfolgen des erlittenen Unrechts kämpfen die Angehörigen indigener Völker (wie so viele andere auch) gegen Rassismus und Ausgrenzung.

Gekonnt verflicht der Autor Geschichte mit Geschichten. Tatsachen aus Kanadas Historie (beispielsweise die Entstehung der Hudson Bay Company und der North West Company) paart er mit zahlreichen Interviews von Angehörigen indigener Stämme und der Leser erfährt praktisch aus erster Hand über zerstörte Kulturen, die bis heute zwar im Kleinen weiter am Leben erhalten werden, aber denen meistens jegliche Lebensgrundlage fehlt. Als Historiker beleuchtet Menrath natürlich auch die „Fakten-Seite“, die Geschichte des Kolonialismus seit 1493, dem Jahr, in dem Papst Alexander VI eine Bulle erließ, die neu entdeckte Länder automatisch den christlichen „Entdeckern“ zusprach. Seine Fakten untermalt er mit Zitaten und untermauert sie mit sage und schreibe 822 Fußnoten.

Dennoch ist das Buch spannend, interessant und packend geschrieben, hervorragend und gefällig formuliert und daher trotz der Fülle an Information sehr gut zu lesen. Der Inhalt ist bestürzend, beschämend und macht schlicht traurig. Auch wenn manche Abschnitte schöne Geschichten, vielleicht sogar ein bisschen „Wild-West-Romantik“ enthalten, blieb in mir eine große dunkle Wolke der Traurigkeit. Vermutlich könnte dieses Buch es vielen Lesern die Augen über das ach so liberale Kanada öffnen, ein Land, in dem wesentlich mehr Diskriminierung herrscht, als vermutlich viele wahrhaben wollen. Das Potenzial zur Aufklärung hat es allemal. Eine ganz klare Lese-Empfehlung für jeden, der sich für die Geschichte hinter der Fassade interessiert. 5 Sterne.

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