Montag, 18. Januar 2021

Kindheit - Tove Ditlevsen

„Kindheit” ist der erste Teil der „Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen, posthum rund 44 Jahre nach ihrem Selbstmord veröffentlicht. Es war mein erstes Buch der Autorin, aber sicher nicht mein letztes. Die Dichte, mit der sie schreibt, die Wortgewalt in ihren eigentlich schlichten Sätzen und natürlich die Geschichte an sich, hatten mich von der ersten Seite an gepackt.

Tove Ditlevsen schreibt die Geschichte ihrer Kindheit im Kopenhagen der 1920er Jahre auf und fängt innerhalb ihrer eigenen Biografie den Zeitgeist der Jahre zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg ein. Aufgewachsen ist sie als jüngeres von zwei Kindern in einer Arbeiterfamilie, der Vater war sozialistisch eingestellt, was der Mutter missfiel und oft zu Reibereien zwischen den Eltern führte. Als Mädchen hatte Tove (wie vermutlich die meisten Mädchen ihrer Zeit) nur eine Aussicht im Leben: gut zu heiraten. Daher melden sie die Eltern nach der Konfirmation (also mit knapp 14 Jahren) von der Mittelschule ab. Eine weitere Ausbildung war für sie, anders als für ihren Bruder, nicht vorgesehen. Dabei ist sie intelligent und lernwillig, liest gerne und schreibt schon in jungen Jahren ihre ersten Gedichte. Stattdessen verdingt sie sich zuerst einmal als Dienstmädchen. Der Traum, Dichterin zu werden, bleibt aber bestehen, auch wenn diesen in ihrem Umfeld keiner ernst nimmt.

Die Lektüre des Buchs bereitete mir aufgrund der Intensität und Authentizität fast körperliche Schmerzen. Nicht, dass der Vater seine Arbeit verliert und die Familie lange Zeit von altbackenen Gebäckstücken leben muss. Auch nicht, dass sie durch ihre Freundin Ruth beinahe auf die schiefe Bahn geraten wäre, da diese sie zu Ladendiebstahls-Touren mitnahm. Nein, die Unnahbarkeit der Mutter, ihr liebloser Umgang mit ihrer Tochter, Toves Unverstandenheit und ihr ständiges Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht zu genügen und „falsch zu sein“ machte mir enorm zu schaffen – selten habe ich mich einer Autorin so nah und verbunden gefühlt. Die toxische Mutter-Tochter-Beziehung zieht sich durch die gesamte Kindheit der Autorin, wobei sie die Schuld immer bei sich selbst sucht.

Das Buch endet mit ihrer Konfirmation, die auch das Ende ihrer Kindheit darstellt. Zu dieser Zeit endet auch ihre Freundschaft mit Ruth und Tove bricht in einen neuen Lebensabschnitt auf. Den kann man dann im zweiten Teil „Jugend“ nachlesen, der demnächst auch auf Deutsch erscheinen wird. Wenn man sich näher mit Tove Ditlevsens persönlicher und beruflicher Biografie beschäftigen möchte, halte ich die Bände der „Kopenhagen-Trilogie“ für einen unverzichtbaren Baustein für das Verständnis ihres Werkes.

Das Buch hat mich in mehrerlei Hinsicht beeindruckt. Ich habe es auch im Original gelesen und, obwohl ich sonst meistens Probleme mit Übersetzungen habe, muss ich sagen: hier hat die Übersetzerin ganz Hervorragendes geleistet. Die Sprache, der Ausdruck und der Duktus sind im Deutschen ebenso gut gelungen, wie im dänischen Original. Der Zeitgeist, das Lebensgefühl und die Ängste der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist beim Lesen spürbar, vor allem anhand der Rolle der Frauen in der Gesellschaft und die allgegenwärtige Arbeitslosigkeit, beziehungsweise die stetig präsente Angst davor. Für mich war das Buch ein echtes Highlight, klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

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