Mittwoch, 10. Februar 2021

Ein englischer Winter - Thomas Reverdy

Anfangs tat ich mich zugegebenermaßen mit Thomas Reverdys „Ein englischer Winter“ etwas schwer. Die fragmentierte Schreibweise und die verschiedenen Handlungsstränge bildeten für mich auf den ersten Seiten einfach keine Einheit. Aber als ich mich an den Stil des Autors gewöhnt hatte, habe ich das Buch in einer Tour durchgelesen. Stilistisch ähnelt das Buch für mich mehr einer Novelle als einem Roman, denn es hat weder einen wirklichen Anfang, noch einen richtigen Schluss. Das tat der der Lesefreude aber keinen Abbruch.

Der Winter 1978/79 war für England in mehrerlei Hinsicht hart: einerseits ist es sehr kalt, andererseits steckt das Land in einer sehr tiefen sozialen und wirtschaftlichen Krise. Die Labour-Regierung von James Callaghan steht vor dem Aus. Die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf und mit den höher werdenden Müllbergen in London (neben den Mitarbeitern der Nahverkehrsbetrieben streikten die der Müllabfuhr als erste), wächst auch der Unmut in der Bevölkerung.

Und mittendrin zwei Frauen, die sehr unterschiedlich sind, aber grundsätzlich auch vieles gemeinsam haben. Candice ist die einzige weibliche Mitarbeiterin eines Fahrradkurier-Unternehmens und versucht sich in ihrer Freizeit als Darstellerin in Shakespeares „Richard III“ in einer Laientheatergruppe. Und dann ist da eine Krämerstochter, die das Land aus der Krise führen möchte. Diese wird später als konservative Premierministerin und Eiserne Lady in die Geschichte eingehen, 1978 besticht sie aber erst einmal durch flammende (Wahlkampf-)Reden und eine „Betonfrisur“. Der Rest ihrer Geschichte ist dem interessierten Leser hinlänglich bekannt.

Zwei emanzipierte Frauen unterschiedlicher Herkunft (Candace stammt aus der Arbeiterschicht mit trinkendem und prügelndem Vater, Margaret Thatcher aus der Mittelschicht Lincolnshires und versucht, mit Sprechunterricht ihren Akzent abzulegen), die ihren Platz in einer bis dato männerdominierten Gesellschaft suchen. Beide sind visionär und energisch, allerdings sind sowohl ihre Ausgangspunkte als auch ihre Ziele völlig unterschiedlich.

Der weniger geschichtsinteressierte Leser wird sich eventuell mit dem Buch aber schwer tun. Der Autor verknüpft Fakten mit Fiktion, hangelt sich an einem Punk-lastigen Soundtrack entlang, der die Weltuntergangsstimmung und die düstere No-Future-Atmosphäre noch betont. Nicht von ungefähr wird der Zeitraum, in dem das Buch spielt, „der Winter des Missvergnügens“ („winter of discontent“) genannt. Nicht zuletzt verflicht er auch mit der immer wiederkehrenden Auseinandersetzung mit Shakespeares Stück, in dem Candice auf der Bühne debütiert, Geschichte mit (zeitloser) Fiktion. Macht (unter anderem die der Gewerkschaften), (Zweck)Bündnisse und gesellschaftliche Umbrüche sind sowohl im Theaterstück als auch im Roman wichtige Themen.

Für Leser, die sich für britische Geschichte und Politik interessieren, ist das Buch ein echtes Schmankerl. Es ist eine gekonnte und tiefgreifende politische Gesellschaftsanalyse verknüpft mit einer literarischen Erörterung. Eine klitzekleine Liebesgeschichte darf auch nicht fehlen, wobei die eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Nicht zuletzt kann man vieles über die Denkweise vieler Briten lernen und unterschwellig kann man auch herauslesen, wie es jetzt zum Brexit kam. Ein Fehler ist dem Autor allerdings unterlaufen: „Q wie die Queen – Elizabeth begleitete das ganze Jahrhundert. 1977 wurde ihr 50-jähriges Thronjubiläum gefeiert.“ – 1977 feierte Elizabeth II. ihr 25. Thronjubiläum. Dennoch hat mich das Buch sehr gut unterhalten. Von mir 5 Sterne.

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