Donnerstag, 22. April 2021

Sam ist weg - Sophie Bienvenu

Mathieu braucht Sam. So viel ist ganz klar. Denn Mathieu hat außer Sam niemanden mehr und ohne die Pitbill-Hündin ist sein Leben auf der Straße schwierig bis unmöglich. Und dann passiert das Schreckliche: Sam ist weg. Dabei hatte er sie nur kurz angebunden, um einkaufen zu gehen. Und dann ist die Hündin weg. Und man ist als Leser:in mitten im Buch „Sam ist weg“ von Sophie Bienvenu.

„»Ich vermisse sie so sehr, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Es fühlt sich an, als hätte man mir ein Stück aus dem Körper gerissen. Und die Wunde will einfach nicht heilen. Als ob sie dir einen Arm oder ein Bein amputiert hätten, weißt du? Es heißt doch, dass man das noch weiter spürt.«

»Redest du von Sam?«

»Ja … Auch von Sam.«

Spätestens an der Stelle ist klar, dass es in Mathieus Leben noch mehr Verlust gegeben hat. Verlust, der ihn aus seinem geregelten Leben gerissen hat und in ein Leben auf der Straße katapultierte. Aufgewachsen mit einer dominanten und narzisstischen Mutter („»Du versaust dein Leben. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Fuck you, Mom. Du hast mich versaut.“), die ihn und sein Leben kontrollierte und manipulierte und einem Vater, der in der Familie nichts zu sagen hatte und früh starb. Er ist ein nachdenklicher, melancholischer und unverstandener Jugendlicher („Du hast kein Recht, traurig zu sein, Mathieu. Du hast ein Dach überm Kopf, du gehst zur Schule … Du hast eine Mutter, die dich liebhat und sich für dich aufopfert. Weißt du, was du bist, Mathieu? Ein verwöhntes Balg. Und undankbar.“) und wird mit 18 Vater einer Tochter. Anschließend versucht er (zu) vieles gleichzeitig: dem Einfluss der Mutter zu entkommen, sein Leben zu ordnen und seiner Tochter ein guter Vater zu sein. Weitere Brüche im Leben werfen ihn dann aber vollends aus der Bahn. Über all das denkt er nach, während er durch die Straßen geht und Sam sucht und gibt den Leser:innen einen Einblick in sein Leben.

Das Buch ist zwar eher ein Büchlein (nur knapp 170 Seiten lang und ich habe es in etwa zwei Stunden durchgelesen), aber es hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck, so tief, dass ich es schade fand, dass es so kurz war. So viel Schicksal und Gefühl gebündelt auf so wenigen Seiten, so viel Liebe, Zuneigung und gleichzeitig Zweifel und Verzweiflung („Du wärst einfach am liebsten überhaupt nicht da. So wie Freddie Mercury. I don’t want to die, I sometimes wish I’d never been born at all.“) Und ganz zum Schluss ein Sonnenstrahl mit Hoffnung und einer Prise Optimismus. So traurig und schön gleichzeitig.

Das Buch hat keine Einleitung und keinen richtigen Schluss, ist also eher Novelle als Roman. Geschrieben ist es so, wie die Gedankengänge von Mathieu verlaufen: nicht linear, sprunghaft, durcheinander und in Umgangssprache (bei der Wortwahl, aber auch grammatikalisch). Authentisch, bildhaft, schlicht und doch bildgewaltig und berührend. Mal schön, mal weniger schön. Aber immer klar, prägnant und auf den Punkt. Da ist kein Wort zu viel und kein Satz überflüssig. Für mich ist es ein ganz besonderes und leises Buch und eine klare Lese-Empfehlung. 5 Sterne.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.