Freitag, 9. Juli 2021

Wut - Harald Martenstein

„Ich bin in der Wohnung meiner Mutter, morgen kommen Möbelpacker. Sie ist jetzt im Heim und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht.“ Mit diesen Worten beginnt Harald Martensteins Roman „Wut“, ein Buch über eine gewaltvolle Mutter-Kind-Beziehung. Der Autor sagt selbst: „Und dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet.” Diese Aussage lässt vermuten, dass autobiographische Elemente verarbeitet sind.⠀

Martensteins Ich-Erzähler Frank leidet von frühster Kindheit an unter den unvorhersehbaren Wutausbrüchen der Mutter (die er nur „Maria“ nennt), die nicht selten in wahren Prügel-Orgien gipfelten. („Ich habe gemerkt, wie sie immer hin- und hergerissen war zwischen Liebe und Hass. Sie war kein Mensch, der Gefühle unterdrücken kann, das konnte sie überhaupt nicht, und so wechselte das eben manchmal innerhalb weniger Minuten, Küsse, Schläge, dann wieder Küsse.“) Das Leben der Mutter war nicht einfach. Das weiß auch Frank, der für ihr Verhalten Erklärungen findet, es aber nicht entschuldigen kann. („Es gibt Dinge, die ich ihr nicht verzeihen kann, obwohl ich sie verstehe.“) Sie kannte als Kind selbst kaum Liebe, vor allem nicht von der eigenen Mutter, die sie mit 18 Jahren zur Welt brachte. Nach dem Krieg fand sie Unterschlupf in einem Bordell und landete dann auf einer Klosterschule. Durch ihre Intelligenz standen ihr trotz ihrer rebellischen Art alle Wege offen – letztendlich verließ sie die Schule kurz vor dem Abitur ohne Abschluss. Sie heiratete und bekam nach zahllosen Abtreibungen, die ihr Schwiegervater, ein Tierarzt, illegalerweise durchführt, ein Kind.

„Als sie sehr jung Mutter wurde, war ich wohl so etwas Ähnliches wie jetzt die Krankheit, etwas, das sie daran hinderte, frei zu sein.“ - Die Mutter hatte zwar noch Ziele und Träume, verwirklichte aber nichts. Im Endeffekt macht ihren Sohn für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich. Und er sie für seines, denn auch er ist ein getriebener und weitgehend bindungsunfähiger Mensch. Frank bricht den Kontakt zur Mutter ab und lange Zeit verbindet ihn mit der Frau, die ihn geboren hat, nur eines: eine tiefe innere Wut, die auch ihn nicht loslässt. „Maria sagte immer, dass ich alles ihr verdanke, dass ich nur ihre Kreatur bin, mein Talent, mein Geld, der Erfolg, alles ihr Erbe, ihre harte Schule, und in gewisser Weise hat sie damit recht. Ich verdanke ihr alles, was ich bin, im Guten und Schlechten.“

Soweit konnte ich dem Buch folgen. Ich fand die Erzählung bedrückend, aber realistisch und nachvollziehbar. Doch dann scheint Frank Zweifel an seinen bruchstückhaften Erinnerungen zu bekommen und die Geschichte rutschte für mich ins Philosophisch-Hypothetische ab. „Niemals weiß ich, ob mir meine Erinnerung nicht einen Streich spielt. War es denn wirklich so?“ Zwar habe er nichts aus seiner Vergangenheit verdrängt, er erinnere sich schlicht nicht an Dinge, die nicht wichtig sind, um im Leben zurecht zu kommen. Nicht nur schlimme Erinnerungen sind weg, sein „Gehirn speichert auch angenehme Erinnerungen nicht.“ Und nach und nach wurde das Buch für zunehmend wirr und undurchsichtig.

Sprachlich fand ich das Buch ansprechend und wegen der vielen oft völlig unvorhersehbaren Handlungen, teilweise sogar spannend. Es ist ein bemerkenswertes, schwer zu verdauendes Werk. Enttäuschend fand ich aber den Schluss. Nach viel psychologischem Tiefgang, einem Mäandern zwischen Mitleid, Verständnis, Wut und Hoffnung, fand ich ihn verworren und verwirrend. Was bleibt, ist die Frage, wie wir zu dem werden, was wir sind, mit dem Fazit: „„Und irgendwann muss man sowieso damit aufhören, den Eltern die Schuld an dem fehlerhaften Menschen zu geben, der man ist.“ Für ein tiefgründiges Buch aus dem ich viel mitnehmen konnte von mir vier Sterne.

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