Donnerstag, 9. Dezember 2021

Die falsche Zeugin - Karin Slaughter

Karin Slaughters „stand-alone-Krimis“ waren für mich bislang eher Wundertüten, ich wusste vorher nie, was mich erwartet. Überraschenderweise hat der Thriller „Die falsche Zeugin“ mich, vor allem gegen Ende, wirklich begeistert. Aber von vorn.

Trotz einer Kindheit voller Gewalt und Vernachlässigung hat Leigh Collier es geschafft: sie ist eine erfolgreiche Anwältin, hat eine Tochter und ein etwas kompliziertes Verhältnis zu deren Vater – augenscheinlich führt sie ein gutbürgerliches Leben. Aber seit ihrer Jugend trägt sie ein Geheimnis mit sich herum, das plötzlich in ihrem Leben wieder extrem präsent wird, als sie die Verteidigung des mutmaßlichen Vergewaltigers Andrew übernehmen soll. Denn der ist für sie kein Unbekannter. Als Teenager waren Leigh und ihre Schwester Callie seine Babysitterinnen. Und sein Vater Buddy hat sie beide, vor allem aber Callie, bis zu seinem mysteriösen Verschwinden, missbraucht. Dadurch, dass Andrew (der als Kind Trevor hieß) wieder in ihrem Leben auftaucht, kommt eine Dynamik in Fahrt, die nicht nur Leigh in Gefahr bringt, sondern alle, die ihr wichtig sind und sie könnte weit mehr verlieren, als einen Gerichtsprozess.

Wer Karin Slaughters Thriller kennt, der weiß, worauf er sich einlässt. Derbe Sprache, extrem brutale Szenen und ein psychologisch clever gestricktes, aber kaum erträgliches düsteres Plot. Da unterscheidet sich „Die falsche Zeugin“ nicht von ihren anderen Büchern. Anders ist eigentlich nur, dass das Buch genau datiert ist, denn das Buch spielt 1998 und 2021, letzteres ist ganz klar an den Corona-Anspielungen zu erkennen. Masken, Desinfektionsmittel und social distancing sind sehr dominante Themen. Auch Coronaleugner-Geschwurbel („»Reiner Blödsinn.« Phil riss die Packung mit den Zähnen auf. »Ich hab noch nie jemanden getroffen, der daran gestorben ist.«“) fehlen ebenso wenig wie „Absolventen der Juristischen Fakultät Twitter“.

Sehr unterschiedliche Schwestern sind wohl ein Lieblingsthema von Karin Slaughter. Die kennt man beispielsweise aus „Die gute Tochter“ der „Grant County Serie“. Und auch in „Die falsche Zeugin“ sind die beiden Schwestern sehr verschieden, haben aber beide abgesehen von ihrer Vergangenheit auch andere Gemeinsamkeiten. Komplex sind die Charaktere im Buch allerdings wieder alle, wenn auch ab und zu sehr klischeehaft. Sympathisch sind nur die „Guten“, die „Bösen“ sind abgrundtief böse und verstecken ihre unsympathische Art hinter hübschen Gesichtern. Bezüglich der Charaktere fand ich vor allem die Beschreibung der drogensüchtigen Callie angenehm wertfrei und gelungen. Mein Lieblingscharakter ist allerdings der demente Tierarzt Dr. Jerry, bei dem Callie als Aushilfe arbeitet.

Karin Slaughters Stil ist trotz manchmal fragmentierter Sätze flüssig zu lesen, Fäkalsprache und derbe Schimpfwörter dürfen einen allerdings nicht stören. Der Spannungsbogen der Geschichte kam mir wie eine wilde Achterbahnfahrt mit ungewissem Ziel vor, die vor allem gegen Ende immer schneller wurde. Der Schluss war für mich eine Überraschung und rührte mich unerwartet. Die Übersetzung ist gelungen, die schonungslos brutale Sprache von Karin Slaughter ist sehr gut getroffen. Natürlich ist das Buch, wie von Karin Slaughter gewohnt, nichts für schwache Nerven und sensible Mägen. Gewollt oder nicht, wirft die Autorin für mich auch die ethisch-moralische Frage auf: wie weit würde ICH gehen, um die zu schützen, die mir lieb und teuer sind? Die Frage hallte auch noch nach dem Zuklappen des Buchs nach. Auch die psychologische Komponente der Namenswechsel fand ich spannend, denn alle Personen scheinen sich neu erfunden zu haben (oder es zumindest versucht zu haben): aus Trevor wurde Andrew, aus Calliope wird Callie, aus Harleigh Leigh und ihre Mutter Sandra nennt sich Phil. Und dennoch mussten alle feststellen, dass das ihre Vergangenheit nicht tilgen kann.

Mich hat das Buch wirklich überrascht und begeistert, ein echtes Highlight für Slaughter-Fans. Daher vergebe ich selbstverständlich fünf Sterne.

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