Freitag, 13. Mai 2022

Gesichter - Tove Ditlevsen

 Tove Ditlevsen kenne ich bereits aus ihrer Kopenhagen-Trilogie. Jetzt ist ihr 1968 veröffentlichter Roman „Gesichter“ in einer neuen Übersetzung erschienen und die autobiografischen Elemente sind auch hier nicht zu übersehen. Die Geschichte der preisgekrönten Schriftstellerin Lise Mundus, die nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie landet, ist düster, bedrückend und verwirrend. Es ist eine eindrucksvolle Beschreibung dessen, was im Kopf der Protagonistin vorgeht: eine chaotische Welt aus Stimmen und Gesichtern, ein Leben zwischen Halluzinationen und Wirklichkeit, die auch der Leser nicht immer zu durchschauen vermag. 


Aber von vorn.

Die vierzigjährige Lise Mundus ist gefangen in der Ehe mit dem notorischen Fremdgänger Gert. Sie hat ein preisgekröntes Kinderbuch geschrieben, das in elf Sprachen übersetzt worden ist, steckt aber seit der Preisverleihung vor zwei Jahren in einer Schreiblockade. Schlafen kann sie nur mithilfe von Schlaftabletten und Angstzustände und Halluzinationen bestimmen ihren Alltag, sodass sie das Haus nicht mehr verlässt („Lise war schon lange nicht mehr auf die Straße gegangen, weil ihr die vielen Gesichter Angst einjagten.“). Auch ihrer Rolle als Mutter dreier Kinder kann sie nicht mehr gerecht werden (ihr Sohn Søren sieht sie sogar als eine böse Märchen-Hexe). Nach einem Selbstmordversuch wird sie in die Psychiatrie eingewiesen, wo ihr Zustand sich verschlechtert, sodass sie nach kurzer Zeit in die geschlossene Abteilung verlegt wird. Auch dort verschwimmen akustische und visuelle Halluzinationen mit der Realität und sie entwickelt Ängste und ein an Verfolgungswahn grenzendes Misstrauen. Nach drei Wochen wird sie jedoch als geheilt entlassen. Allerdings hatte sie „ihre neue, zerbrechliche Wirklichkeit übergestülpt wie eine Schachtel einen Deckel, der ihr nur passte, wenn sie sich anstrengte und ausweitete.“ Das Buch endet mit ihrem Vorsatz, ein Buch für Erwachsene zu schreiben. Morgen dann.  

Sprachlich fand ich das Buch (wie alles, was ich von Tove Ditlevsen gelesen habe) sehr poetisch und bildhaft geschrieben. Die Autorin verwendet eine Vielzahl von Metaphern, aber trotzdem ist das Buch sehr prägnant und dicht geschrieben, kein Wort, kein Satz ist zu viel. Die Charaktere sind eher zwei- als dreidimensional. Sie sind mehr Pappkameraden als Persönlichkeiten, so, wie Lise Mundus die Menschen sieht: als jemand, der sich hinter seinem Gesicht wie hinter einer Maske versteckt. 


Tove Ditlevsen verarbeitet in ihrem Buch viel mehr als die Erfahrungen mit der Psychose, den dänischen Psychiatrien und vor allem den Psychiatern (Dr. Jørgensen ist einem realen Arzt nachempfunden, der tatsächlich Versuche mit LSD an Patienten durchgeführt hat). Es ist eine Menge Gesellschaftskritik darin versteckt. An der Rolle der Frau in der Gesellschaft („Einige, vor allem Mädchen, mussten die Kindheit ihrer Mutter leben, während ihre eigene in einer geheimen Schublade verstaubte.“) und in der (speziell ihrer eigenen) Ehe, bezeichnend dafür finde ich den Satz, den Gert zu seiner Frau Lise sagt: „Dich kann man als Menschen nur noch schwer ernst nehmen.“ 

Die Geschichte ist für die Leserschaft so verwirrend und bedrückend wie für die Protagonistin. Die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit sind so verschwommen, dass man sich gut vorstellen kann, wie es in ihr aussehen muss. Ein heilloses Durcheinander aus echten und halluzinierten Stimmen und Gesichtern, eine Welt aus Misstrauen, Wahn und dem Wunsch, einfach nur in Ruhe gelassen zu werden („»Lassen Sie mich in Ruhe«, schluchzte sie. »Etwas anderes habe ich nie gewollt. Ich interessiere mich nicht für die Welt. Ich möchte einfach nur schreiben und lesen, ich möchte einfach nur ich selbst sein.“). Wer die Biografie der Verfasserin kennt weiß, dass sie aus eigener Erfahrung schreibt. Und das machte für mich alles noch viel trauriger.

Dennoch habe ich das Buch geradezu verschlungen, vor allem, weil ich ihre bildhafte Sprache zu schätzen gelernt habe. Von mir daher fünf Sterne.


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