Dienstag, 20. September 2022

Das Haus über dem Fjord - Kristin Valla

 „Wer unsere Eltern wirklich waren, werden wir vielleicht nie erfahren. Aber wer sie für uns sind, entscheiden wir zum Glück selbst.“ – das könnte die Essenz aus Kristin Vallas Roman „Das Haus über dem Fjord“ sein. Es war bislang so ziemlich das überraschendste Buch, das ich jemals gelesen habe. Zwar hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass irgendein Plot-Twist kommen würde, aber dass er mich so unerwartet treffen würde – damit hatte ich nicht gerechnet. Ich mag Norwegen und ich mag (manchmal) Bücher über Familiengeheimnisse. Daher war das „Das Haus über dem Fjord“ für mich eine großartige und lohnende Sommerlektüre. 

 „Ut av det blå“ ist der Titel des Norwegischen Originals – aus heiterem Himmel. Und das trifft es völlig. Denn als Kristin Vallas Protagonistin Elin 1985 durch einen Erdrutsch ihren Vater und ihre beiden Brüder verliert, ändert sich ihr Leben völlig unerwartet grundlegend. Die Leichen von Vegard und Thomas werden gefunden und können beerdigt werden. Ihr Vater Bjørn bleibt trotz intensiver Suche verschwunden. 2005 stirbt ihre Mutter Wenche und zwei Jahre später beschließt Elin, inzwischen Journalistin in Oslo, das elterliche Haus zu verkaufen. Mit dem Tod von Brüdern und Vater hatte ihre Kindheit geendet, mit dem Verkauf des Hauses möchte sie ihr komplettes „altes“ Leben abhaken. In ihrem nordnorwegischen Heimatdorf findet sich ihre erste große Liebe Ola wieder – und stößt beim Ausräumen des Hauses Hinweise auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Und tief in sich spürt sie, dass sie dieses Geheimnis lüften muss, um endgültig mit sich und allem anderen ins Reine zu kommen. Bei einer Reise nach Frankreich deckt sie Dinge auf, die sie sich nie im Leben hätte träumen lassen.

Und ich als Leser auch nicht. Wie gesagt, das Ende des Buchs hat mich völlig überrascht, mehr möchte ich dazu aber auch gar nicht schreiben. Ich mag keine Spoiler und lege den Roman ohnehin jedem ans Herz, der Familiengeheimnisse und Norwegen mag. Und ich empfehle sogar, es zweimal zu lesen, da die Geschichte eine völlig andere ist, wenn man den Schluss kennt. Dann fallen einem nämlich beispielsweise die kleinen Hinweise auf das Geheimnis im Umgang der Eltern miteinander auf.

Sprachlich fand ich das Buch sehr bodenständig und gut zu lesen, allerdings auch bildgewaltig und teilweise fast poetisch. Die Übersetzung ist hervorragend gelungen. Die wichtigen Charaktere sind dreidimensional und sehr gut ausgearbeitet, und auch die Atmosphäre des Romans ist greifbar. Ich hatte die ganze Zeit die norwegische Landschaft vor Augen, konnte die bedrückende Stimmung nach dem Erdrutsch fühlen und die Traurigkeit der Hinterbliebenen, denen der Quickton nicht nur den tatsächlichen, sondern auch den metaphorischen Boden unter den Füßen weggezogen hat. Die Trauer der Mutter um die Söhne und den für tot erklärten Ehemann ist spürbar, die Entfremdung zwischen Mutter und Tochter macht traurig, obgleich sie für mich nachvollziehbar war. 

Man könnte sagen, das Buch ist kitschig, unrealistisch und, vor allem der Schluss, völlig konstruiert und an den Haaren herbeigezogen. Man kann aber auch sagen, es ist ein ganz wundervolles Buch über Fassaden, Liebe, Verständnis, Toleranz, die Suche nach der Wahrheit und innerem Frieden. Über altes und neues Leben, loslassen können und neu anfangen. Ich habe nicht nur viel über die Bodenbeschaffenheit Skandinaviens gelernt (der Quickton, der den Erdrutsch verursachte, durch den Elins Vater und ihre Brüder ums Leben kamen, kommt in skandinavischen Fjordregionen häufig vor), sondern auch über Würde, Liebe, das Leben, Trauer, Vermissen und innere Verbundenheit zwischen Menschen. Ich habe die Lektüre sehr genossen und vergebe gerne fünf Sterne. 


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