Montag, 12. September 2022

Lügen über meine Mutter - Daniela Dröscher

Das Leben von Ela, der Protagonistin aus Daniela Dröschers autofiktionalem Roman „Die Lügen über meine Mutter“, ist von mehreren Dingen geprägt: von Lügen und Versteckspielen, dem Gewicht der Mutter und der fixen Idee des Vaters, das dies an allem schuld sei, vor allem an beruflichen Misserfolgen. Bei seiner Jagd nach beruflichem und sozialem Aufstieg drangsaliert er seine Frau, zwingt sie zu Diäten und auch dazu, sich vor seinen Augen zu wiegen – und verliert im Endeffekt alles. Das Ganze spielt sich in einem fiktiven Hunsrück-Dorf ab und zeigt ein eher unschönes Bild des Kleinbürgertums der 1980er. 

Aber von vorn. Oder auch nicht.

Denn das Buch dreht sich überwiegend tatsächlich darum: Aufwachsen in einer äußerst toxischen Familie, geprägt durch Ehrgeiz, Großmannssucht und Kontrollwahn des Vaters und natürlich das Übergewicht der Mutter. Daran hat der Vater immer was zu kritisieren. Dabei tut die Mutter anfangs ihr Möglichstes: sie fährt zur Kur, hangelt sich von Diät zu Diät und macht natürlich auch Sport. Aber sie befindet sich in einem Teufelskreis, auf kleine Abnehm-Erfolge folgt immer eine Gewichtszunahme. Dabei hat sie mit zwei Kindern plus Pflegekind und der Betreuung ihrer eigenen demenzkranken Mutter genug zu tun. Ela ist zu Beginn der Erzählung noch im Kindergartenalter und ist hin- und hergerissen zwischen allen Beteiligten. Sie liebt die Großeltern väterlicherseits, mit denen die Familie zusammenwohnt, ungeachtet der Tatsache, dass diese ihre Mutter ablehnen („So ä dreggisch Weibsstick.“) Sie liebt auch die Großeltern mütterlicherseits, die mit nicht ihrem Vater und schon gar nicht seinen Eltern warmwerden können. Und sie liebt ihre Mutter, auch wenn sie sich manchmal für sie schämt („Es war eine Scham zweiter Ordnung. Ich sah meine Mutter mit den Augen meines Vaters.“) und ihren Vater, obwohl er ihrer Mutter nicht guttut und die Familie mit seinen fixen Ideen ruiniert. 

Der Roman ist interessant konzipiert. Daniela Dröscher beschreibt ihre Kindheit aus der Sicht des unbedarften Kindes. In kurzen Zwischen-Kapiteln ordnet ihr erwachsenes Ich dann alles für sich selbst und das Publikum ein. Ihre Protagonistin Ela wird in eine schwierige Rolle gezwängt, ihre Therapeutin wird das später „Parentifizierung“ nennen. Sie ist schon früh die Vertraute der Mutter („Ich war gerade mal zwölf oder vielleicht dreizehn, als meine Mutter mir von ihren beiden Abtreibungen erzählte, an einem unserer vielen endlosen Nachmittage auf dem Balkon, an denen wir ihre Ehe besprachen.“), die Geheimnisse mit sich herumtragen und Lügen decken muss. Diese Rolle sollte kein Kind einnehmen müssen.

Für mich war es ein berührender Roman. So viel Toxizität (und damit ist nicht nur die tatsächliche Toxizität, durch die zu der Zeit passierte Tschernobyl-Katastrophe oder die fiktive „Geschichte von den verstrahlten Schewenborn-Kindern“ gemeint, die Ela „gruselig“ fand) auf so wenigen Seiten! Oft wollte ich beim Lesen Elas Mutter packen und schütteln. Ihr sagen, dass sie eine starke Frau ist und sich nicht von ihrem Mann auf die Waage zwingen lassen, dass sie ihre Großzügigkeit nehmen und sich von ihrem Mann trennen soll. Aber man steht als Leser so hilflos daneben, wie Ela es als Kind war. 

Für mich ist das Buch eine bedrückende und authentische Sozialstudie des Lebens in den 1980ern. Unglückliche Ehen, dominante Schwiegermütter, die ihre „Prinzen“ vergöttern und eigentlich gar nicht „hergeben“ wollten, vor allem nicht an eine ungeliebte Schwiegertochter, Ehefrauen zerrieben zwischen (ehelichem) Pflichtgefühl und dem Wunsch nach Emanzipation. Dabei weiß die Mutter selbst, dass sie nicht gewinnen kann. „Es reicht sowieso nie. Hab ich recht?“, antwortet sie sich selbst auf die Frage, wie dünn sie noch werden solle. Wäre sie rank und schlank gewesen, hätte er sein berufliches Scheitern vermutlich auf irgendetwas anderes geschoben. 

Für mich ist es zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert und ich vergebe fünf Sterne.



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