Mittwoch, 26. Oktober 2022

Der gelbe Vogel - Myron Levoy (gelesen von Jeremias Koschorz)

 Lang ist es her, dass ich Myron Levoys Buch „Der gelbe Vogel“ gelesen habe. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, das Hörbuch zu hören und war gespannt, wie sich meine Wahrnehmung seit meiner Jugend gewandelt hat und dadurch auch meine Herangehensweise an das Buch. Interessant für mich: das, was der Autor schreibt, hat nichts an seinem Tiefgang verloren. Das Buch ist nach wie vor erschreckend aktuell und geht immer noch unter die Haut. Nur mit dem Sprecher des Hörbuchs wurde ich nicht ganz warm, was den Hörgenuss etwas schmälerte.

Aber von vorn.

Alan Silverman ist zwölfeinhalb Jahre alt und lebt als Sohn einer jüdischen Familie im New York des Zweiten Weltkriegs. Seine Welt dreht sich um Modellflugzeuge, Schlagball und Schule, parallel dazu verfolgt er zusammen mit seinem Vater den Frontverlauf in Europa auf der Karte und hat die tiefe Trauer der Eltern über den Tod seiner kleinen Schwester miterlebt. In seinen geregelten Alltag platzt Naomi, die „Meschuggene“, die in seinem Haus lebt. Die ebenfalls zwölfjährige Jüdin ist mit ihrer Mutter aus Frankreich geflohen, nachdem ihr Vater vier Jahre zuvor vor ihren Augen von Nazis getötet wurde. Auf Wunsch seiner Eltern besucht Alan Naomi, erst widerwillig, dann mit zunehmender Begeisterung. Die beiden freunden sich trotz vieler Schwierigkeiten an, Naomi macht große Fortschritte, schafft es sogar, die Schule zu besuchen. Eine erneute traumatische Gewalterfahrung wirft sie jedoch komplett zurück und das Buch findet ein trauriges Ende.

Mich hat das Buch schon beim ersten Lesen vor zig Jahren berührt und auch jetzt beim Hören bekam ich Gänsehaut. Naomis Vergangenheit und der gewaltsame Tod ihres Vaters sind ständig unterschwellig präsent, sodass auch die eigentlich humorvollen und lustigen Stellen einen traurigen Unterton bekommen. Da ich das Buch schon kannte, wusste ich ja, wie die Geschichte zwischen Alan und Naomi ausgehen wird, deshalb war meine Herangehensweise vermutlich anders als die von Menschen, für die das Buch neu ist. Ich hatte bei jedem hoffnungsvollen Moment ein „aber“ im Hinterkopf.

Sprachlich fand ich das Buch gelungen, wobei man sich aber vor Augen halten muss, dass es 1977 erschienen ist. Es ist zwar leicht verständlich geschrieben, überwiegend ist die Sprache alltagsnah, nur ein paar Sätze sind auf Französisch. Da Alan diese aber für sich selbst übersetzen muss, bekommt die Leser-/Hörerschaft sie ebenfalls auf Deutsch. Die Hauptcharaktere sind sehr klar ausgearbeitet. Alans innerer Konflikt zwischen seiner Freundschaft mit Naomi, seinem Pflichtgefühl und seinem Wunsch danach, mit Kumpels Zeit verbringen zu können, ist spürbar. Auch seine zeitweise Überforderung, als „Co-Therapeut" sind deutlich herausgearbeitet, genauso wie seine Freude über kleine und große Erfolge. Naomis Trauma, ihre Verzweiflung, ihr Schuldgefühl und ihre Verlorenheit verursachten mir beim Lesen/Hören fast körperliche Schmerzen. Ihre Mutter ist im Gegensatz zu Alans Eltern sehr blass dargestellt. Sie ist mehr wie ein Schatten in der Geschichte: vorhanden, aber (auch dadurch, dass sie kaum englisch spricht) ohne größeren Anteil am Geschehen.

Der Sprecher des Hörbuchs konnte bei mir nicht wirklich punkten. Zwar kann man die unterschiedlichen Personen dank der Nuancen in seiner Stimme zuordnen, manchmal schafft er es für mich aber nicht ganz, die Stimmung einzufangen. Ein paar Fehler bei der Betonung fand ich sehr irritierend. Alans Mutter und ihren jiddischen Tonfall trifft er jedoch ganz hervorragend, wodurch ich dann im Endeffekt doch versöhnt war. 

Für mich war das Buch sowohl eine Reminiszenz an meine Jugend wie auch eine erschreckend aktuelle Geschichte und ich vergebe fünf Punkte für die Geschichte und vier für die Umsetzung des Hörbuchs, aufgerundet auf fünf. 


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