Dienstag, 15. November 2022

Schweig! - Judith Merchant

 Was für eine Achterbahnfahrt mich bei Judith Merchants „Schweig!“ erwarten würde, hätte ich mir im Leben nicht träumen lassen. Und dabei dachte ich immer, ich kenne mich mit toxischen und dysfunktionalen Familien und verkorksten Weihnachtsfesten aus. Aber das, was sich zwischen Esther und ihrer Schwester Sue (genannt Schnecke) abspielt, stellt alles in den Schatten. Lügen, Abhängigkeiten und immer wieder emotionale Erpressung prägen die schwesterliche Beziehung schon seit der Kindheit und an Weihnachten kocht immer wieder nicht nur die Gans, sondern alle Emotionen hoch. Dieses Jahr gibt es am Ende eine Bescherung der besonderen Art. Nein, keine Geschenke, sondern eine Leiche. Für mich ein psychologisch hochinteressantes und überaus spannendes Buch, das sowohl sprachlich als auch konzeptionell bei mir voll punkten konnte.

Aber von vorn. 

Wir schreiben den 23. Dezember. Die perfekte Hausfrau Esther ist mit den Weihnachtsvorbereitungen in den letzten Zügen, der Baum (natürlich bio!) muss noch abgeholt und eine letzte Hand an die Dekoration gelegt werde. Und dann muss sie natürlich auch noch zu ihrer Schwester Sue fahren und ihr Geschenk vorbeibringen. Schließlich will Sue nach dem misslungenen Weihnachtsfest des vergangenen Jahres auf keinen Fall bei Esther, Martin und den beiden Kindern feiern. Zwischen den beiden Schwestern stehen die Zeichen auf Sturm, schon in dem Moment als Esther bei Sue im Wald ankommt, knirscht es. Und als Esther dann auch noch wegen des Schneetreibens nicht nach Hause fahren kann, kommen zwischen den beiden Frauen Dinge zutage, die sich über Jahre hinweg aufgestaut haben. Gehässigkeiten werden ausgetauscht, unschöne Erinnerungen aufgefrischt und alles in allem ist das schwesterliche Miteinander äußerst unharmonisch. 

Sprachlich fand ich das Buch sehr gut und flüssig zu lesen. Der Spannungsbogen ist durch die Perspektivwechsel stetig steigend. Von einem unguten Gefühl am Anfang steigert sich die Spannung zu einem furiosen Schluss. Sehr gelungen fand ich, dass dieselben Begebenheiten aus unterschiedlichen Perspektiven und mit völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen beschrieben werden. Beinahe könnte man der narzisstischen Esther tatsächlich ab und zu ein „sie meint es ja nur gut“ zuschreiben – aber nur beinahe. Narzissten können nicht aus ihrer Haut und tun halt Narzissten-Dinge. Wobei wir bei den Charakteren wären. Diese sind hervorragend ausgearbeitet. Vor allem Esther hat sich in ihrer vollen toxischen Perfidität als nervige, übergriffige, besserwisserische, perfektionistische und kontrollsüchtige Über-Frau meine absolute Abscheu wirklich redlich verdient, ihre Art machte mich beim Lesen irre. 

Insgesamt ist das Buch, nüchtern betrachtet, sehr unaufgeregt. Esther mimt fortlaufend die deeskalierende große Schwester, die aus bloßer Harmoniesucht möchte, dass es allen gut geht. Was dahintersteckt ist perfide und dabei absolut nicht unrealistisch. Der wahre Thrill des Buchs liegt nicht in der eigentlichen Handlung (die tatsächlich durch die Wiederholungen durch die verschiedenen Perspektiven ein paar Längen hat), sondern in dem, was zwischen den Zeilen steht. Martin, Esthers Mann, wünscht seiner Frau den Tod. Sue wünscht sich, von ihrer Schwester befreit zu sein. Egal wie. In diesem Dreieckskonstrukt flippert die Handlung hin und her, giftige Pfeile werden als Nettigkeiten getarnt verschossen und die Tatsache, dass es am Schluss tatsächlich eine Leiche gibt, war für mich bei so viel psychologischer Finesse eigentlich nebensächlich.

Für mich war das Buch daher eine riesige Überraschung und eine packende Lektüre, die ich, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen konnte. Von mir daher fünf Sterne.


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