Montag, 3. April 2023

Das Zeitalter der Unschärfe - Tobias Hürter

„Die wichtigsten grundlegenden Gesetze und Tatsachen der Physik sind entdeckt und daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand durch neue Entdeckungen ergänzt, äußerst gering.“ – diese Aussage des amerikanischen Physikers Albert Michelson stammt aus dem Jahr 1899. Für ihn war die Physik also „vollendet“. Wie falsch er lag, kann man in Tobias Hürters Buch „Das Zeitalter der Unschärfe nachlesen, denn die „glänzenden und die dunklen Jahre der Physik“ sollten erst noch kommen. Was mit Henri Becquerel und Marie Curie und der Entdeckung der Radioaktivität begann, mit dem Bohrschen Atommodell und den Relativitätstheorien weiterging und zur Quantentheorie und der Quantenmechanik führte, revolutioniert Wissenschaft, wissenschaftliches Denken und die ganze Welt – und endet mit den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. 

Tobias Hürter geht in seinem Buch gleichermaßen auf die Biografien derjenigen ein, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben haben, wie auch auf ihre Forschungen. Er streift Marie Curies Kindheit und Jugend, ihre Studien in Frankreich und den Tod ihres Mannes und Forschungspartners Pierre. Er schreibt locker und anschaulich über Menschen wie Albert Einstein, Niels Bohr, Max Planck, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger (der tatsächlich nie eine Katze hatte!) und über ihre wissenschaftliche Arbeit. Die Leserschaft kann chronologisch die Entwicklung von Becquerels ersten Forschungen an Uran zu Curies Entdeckung von Radium und Polonium miterleben (letztere prägte auch den Begriff Radioaktivität), das Werden vom Bohrschen Atommodell bis hin zum Bau der ersten Atombombe. 

Dabei schafft der Autor es immer, den wissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit (ohne Telefon oder gar Internet musste viel brieflich erledigt werden und es wurde auch eine Menge gereist) lebhaft und anschaulich zu schildern. Man erlebt als Leser:in fruchtbare und angeregte, manchmal sogar hitzige Diskussionen zwischen wissenschaftlichen Kapazitäten, die die Wissenschaft weiterbrachten, als jemals jemand hätte erwarten können. Diese Diskussionen können so oder so ähnlich gewesen sein, Fakt ist auf jeden Fall, dass sie stattgefunden haben. Auch die Straßenbahnfahrten von Niels Bohr und Albert Einstein durch Kopenhagen, bei der die beiden so angeregt diskutiert haben, dass sie immer wieder ihre Haltestelle verpassten, gab es wirklich. 

Natürlich ist es kein Physikbuch, streng genommen vielleicht noch nicht einmal ein Sachbuch. Aber es ist ein hervorragender populärwissenschaftlicher Überblick über die Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Relation zur Zeitgeschichte, launig und erfrischend einfach geschrieben. Neben der Physik spielt natürlich auch die Politik eine Rolle, schließlich führte die damalige Forschung im Endeffekt zur Atombombe und dem Ringen um ebendiese. 

Da komme ich auch zum großen und einzigen Kritikpunkt an dem Buch. Wegen der Bombardierung Berlins verlegten die Forscher um Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker ihren Versuchsreaktor 1944 nach Haigerloch. So weit so gut, meine Großmutter wohnte damals in Sichtweite des Felsenkellers, in dem das Herz des Uranprojekts untergebracht wurde. Ich selbst bin ich Haigerloch aufgewachsen, was schon seit 1231 Stadtrechte besitzt und daher damals schon kein Dorf war und ebenfalls ganz sicher nicht auf der Schwäbischen Alb liegt. 

Aber abgesehen von diesem Fauxpas, hat mich das Buch in seinen Bann gezogen. Selbst ich, der ich Physik zu Schulzeiten verabscheut habe, habe viele Anreize bekommen, mich näher mit der Materie (den Menschen und ihren Forschungen) zu befassen, im Anhang ist dazu eine Liste mit weiterführender Literatur. Denn eines ist klar: auch heute noch liegt Albert Michelson falsch. Zwar ist die Forschung sehr viel weiter als zu Anfang des 20. Jahrhunderts, aber immer noch gibt es eine Menge zu entdecken und Forschung wird nie „vollendet“ sein, das wissenschaftliche Weltbild kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Von mir fünf Punkte.


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