Montag, 20. November 2023

Aenne und ihre Brüder - Reinhold Beckmann

Reinhold Beckmann war mir als Moderator und Sportreporter bekannt. Mit seinem Buch „Aenne und ihre Brüder“ (ich habe das Hörbuch gehört), schrieb er sich allerdings in mein Herz. Er liest das Hörbuch selbst zusammen mit Julia Nachtmann, und er bringt seiner Leserschaft seine Familiengeschichte, minutiös eingeordnet in die Zeitgeschichte ab 1920, näher. Die Geschichte ist eine, die viele andere Familien dieser Zeit ebenfalls erlebt haben, allerdings bekommen die unzähligen Opfer durch sein Buch Gesicht und Namen. Reinhold Beckmann konnte seine Onkel Franz, Hans, Alfons und Willi nie kennenlernen, alle vier sind gefallen. Sie fielen im Alter zwischen 31 und 17 Jahren. So viel ungelebtes Leben. So viele unerfüllte Wünsche und Träume. So viele Hinterbliebene, die ihre Lieben verloren haben.
Aber von vorn.
Verluste prägten früh das Leben von Reinhold Beckmanns Mutter Aenne. Ihre Mutter starb, als sie etwa ein Jahr alt war, der Vater vier Jahre später an der Tuberkulose, die er aus dem ersten Weltkrieg „mitgebracht“ hatte. Die Stiefmutter wurde damit ebenfalls zur Witwe und heiratete später wieder, mit diesem Mann bekam sie zwei Kinder, die sie den Stiefkindern stets vorzog. Allerdings ließ sich Aenne nicht unterkriegen, sie ging trotz aller Widrigkeiten ihren Weg. Mit ihren leiblichen Brüdern verband sie eine enge Beziehung, bis zu ihrem Tod schrieben ihr Franz, Hans und Alfons so oft es die Feldpost zuließ. Sie fielen ebenso im Zweiten Weltkrieg wie ihr Stiefbruder Willi. Mit 98 Jahren ließ Aenne Beckmann, geborene Haber, sich von ihrem Sohn für das Buch interviewen, Grundlage ihrer Gespräche ist ein Schuhkarton voll Feldpostbriefe ihrer drei leiblichen Brüder. Rund um diese Briefe hat Beckmann die Geschichte seiner Mutter und ihrer Familie erzählt. Das Buch ist aber sehr viel mehr als eine Familienchronik, denn der Kontext zur Weltgeschichte ist stets präsent. Der aufkeimende Nationalsozialismus, der an dem tief katholischen Dorf Wellingholzhausen erst vorbeizuziehen schien, dann aber mit Gleichschaltung auch dort Einzug hielt. Eine große und wenig ruhmreiche Rolle spielte dabei auch die Kirche, von deren Seite es sehr wenig Widerstand gegen die Nationalsozialisten gab, obwohl schon früh gegen so gut wie alle christlichen Gebote verstoßen wurde. Widerstand gab es im Dorf ohnehin eher weniger, mehr eine gewisse Gleichgültigkeit, die erst in Wut umschlug, als viele Söhne/Brüder/Ehemänner fielen und der Tod „reich Ernte hielt“. 
Stilistisch ist das Buch sehr angenehm zu lesen und mit Reinhold Beckmanns Stimme ein Ohrenschmaus. Seine Sprache ist nüchtern und sachlich, die Sätze sind einfach und eher journalistisch als literarisch, ich fand sie dem Buch und der Thematik angemessen. Dabei schreibt er aber immer liebevoll und voller Wärme über seine Mutter und ihre Brüder. Die Grausamkeiten von Kriegen beschreibt er mehr zwischen den Zeilen als direkt, was dem Buch für mich noch mehr Tiefe gab. Der Alltag in einer dörflichen Gemeinde kommt ebenso zum Tragen wie das Leben seiner Mutter als Frau in einer Zeit, als eine Ausbildung „nicht vorgesehen war“, sondern man „in Stellung“ ging. Daneben bekommt man einen kleinen Einblick in das Leben an der Front, zensurgerecht geschrieben von Soldaten, die eigentlich Handwerker waren und den Krieg als „Unsinn“ ansahen und über ihre Träume und Wünsche für „danach“ schreiben – die Leserschaft weiß ja, dass sie nie in Erfüllung gehen werden. Und über allem thronen die Zitate aus Reden der Politiker, über totalen Krieg und Endsieg – heute wissen wir, was das alles zu bedeuten hatte.
Mit „Aenne und ihre Brüder“ schafft Reinhold Beckmann ein liebevolles und mahnendes Denkmal für seine Mutter und ihre Brüder, exemplarisch für alle, die den Krieg überlebt haben und die, die gefallen sind. Sie haben Namen und Gesichter und das macht das Buch zur schweren Kost, auch angesichts der vielen aktuellen Krisenherde. Das „nie wieder“ ist heute wichtiger denn je – von mir volle Punktzahl und eine absolute Lese-Empfehlung.

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