Montag, 22. September 2025

Meine Mutter - Bettina Flitner

 Fast genau zwei Jahre nach ihrem Roman „Meine Schwester“ legt Bettina Flitner mit „Meine Mutter“ ein zweites Buch zu ihrer Familiengeschichte nach. Ich kannte die Autorin vorher nicht, allerdings sprach mich der Klappentext an, Erwartungen oder gar Ansprüche hatte ich an das Buch nicht. Ich habe das Buch innerhalb kürzester Zeit gelesen und dennoch hat es mich nicht hundertprozentig begeistert, denn die Distanz, mit der die Autorin über alles schreibt, hat sich auf mich übertragen. 

Aber von vorn.

Bettina Flitner kommt für eine Lesung aus ihrem Buch „Meine Schwester“ zurück nach Celle. Dort hat sie vor 40 Jahren ihre Mutter Gila beerdigt. Erinnerungen prasseln auf die Autorin ein und ihr wird klar, dass sie große Wissenslücken bezüglich ihrer Familie hat. Suizide spielen eine große Rolle in der Familie, soviel weiß sie. Ihre Mutter und ihre Schwester haben im Abstand von 30 Jahren Suizid begangen. Aber sie waren nicht die ersten. Bettina Flitner reist in die Vergangenheit ihrer Familie und sucht ihre Wurzeln im polnischen Międzygórze (ehemals Wölfelsgrund), wo ihr Ururgroßvater Heinrich seinerzeit ein Sanatorium gründete. Bettina Flitner versucht, sich ihrer Mutter anzunähern, trifft auf fiktionaler Ebene ihre Vorfahren und das Mädchen und die „Frau, die einmal meine Mutter werden wird“. 

Die Autorin wurde schon früh mit Suiziden konfrontiert. Sie erinnert sich, dass sie bei Familienfesten mit ihren Cousins und Cousinen die Verwandten zählte, die diesen Weg gingen: „Richard und Elfriede. Mit ihnen fingen wir an. Ich hob eine Hand in die Luft und zählte mit den Fingern mit. Richard und Elfriede, Daumen und Zeigefinger. Tante Erika, Onkel Christoph, Mittelfinger, Ringfinger. Tante Gudrun, Onkel Holger, kleiner Finger, Daumen der nächsten Hand. Wie viele waren es? Die Finger von zwei Händen reichten nicht aus.“ Was macht es mit einer Jugendlichen, die am Morgen ihrer Abiturprüfung das Leben ihrer Mutter nach einer Überdosis Schlaftabletten retten muss? Wie lebt man mit steten Gefühlsschwankungen und der Angst, die Mutter irgendwann tot aufzufinden? Und wie arbeitet man diese Erlebnisse auf, wenn die beiden wichtigsten an ihnen Beteiligten nicht mehr da sind? Sie können kein Licht mehr ins Dunkel bringen, keine Erklärungen zum „Warum?“ abgeben. Für mich schildert die Autorin das zu beiläufig und zu distanziert, aber für sie selbst ist das vermutlich genau richtig. 

Das Buch ist sprachlich ansprechend und gut zu lesen. Es übte auf mich beim Lesen einen unerklärlichen Sog aus, vermutlich, weil ich die ganze Zeit darauf gewartet habe, dass ich zu den Charakteren eine (Ver)Bindung aufbauen würde. Das ist aber nicht passiert, vielleicht auch, weil es einfach viel zu viele Namen sind, die auf mich bei der Lektüre einprasselten. Manchmal scheint die Geschichte der Mutter auch etwas zum Nebenthema zu werden, die Gesellschaftskritik und die Rolle der Frauen ist manchmal zu dominant. Die Frauen in Bettina Flitners Familie sollten eine gute Partie machen, die Männer gehen allesamt irgendwann fremd. Opa Api hat zusammen mit seiner Tochter Gudrun nach dem Ende des Krieges bei vergew****en Frauen und Mädchen Abtreibungen vorgenommen. Dabei drückt er in seinem Tagebuch die Verachtung gegenüber den Opfern klar aus: „An den Ver*****gungen sind die Frauen großenteils selbst schuld“. Auch an seiner Tochter Gila lässt er sogar bei ihrer Beerdigung kein gutes Haar: „Sie hat nie etwas getaugt“. 

Ich tat mich  mit dem Aufbau des Buchs etwas schwer, man musste sich schon sehr konzentrieren, um zu wissen, in welcher Zeit man sich gerade befand. Auch die stetige Erwähnung einer Patientin im Sanatorium als „Ida Grünfeld, verheiratete Benjamin“ machte mich traurig, denn Frau Benjamin war ein eigenständiger Mensch und nicht nur „Frau von“. Da zeigt die Autorin einerseits den Zeitgeist der 1940er Jahre, aber auch etwas, was mir widserstrebt. 

Der Roman beruht auf Gesprächen mit Familie und Zeitzeugen, Tagebüchern, Briefen und Dokumenten und natürlich besteht er auch aus einer großen Portion Fiktion. Was tatsächlich passiert ist und was fiktional ist, kann man nicht erkennen, das weiß nur die Autorin selbst, und nicht einmal sie kennt die wirkliche Geschichte komplett. So überraschte sie, dass jemand auf einem Foto die NSDAP-Parteiabzeichen auf der Jacke ihres Opas mit Bleistift übermalt hat. Für mich war das Buch auf jeden Fall zu viel Familie und zu wenig Mutter, daher vergebe ich drei Sterne.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.