Eine verschwundene ältere Dame. Ein Ehemann, dem das gänzlich egal zu sein scheint. Eine Familiengeschichte mit Geheimnissen. Das sind grob die Themen, die Katja Keweritsch in ihrem Roman „Das Flüstern der Marsch“ behandelt. Ich mag Marschland, ich stamme selbst aus einer komplizierten Familie und der Klappentext sprach mich an. Dass mich das Buch aber auf eine so wilde Fahrt mit gänzlich unerwarteten Wendungen mitnehmen würde, das hatte ich dann doch nicht erwartet.
Aber von vorn.
Opa Karls 80. Geburtstag steht vor der Tür und ausgerechnet jetzt ist seine Frau Annemie verschwunden. Wäre Enkelin Mona nicht wegen der Familienfeier in die Marsch gekommen, wäre es vielleicht gar nicht aufgefallen, dass Oma abgängig ist, denn Opa scheint sie nicht zu vermissen. Auch die anderen Familienmitglieder nehmen Omas Verschwinden hin, es gibt eine halbherzige Vermisstenanzeige bei der Polizei und eher unmotiviertes Nachfragen im Freundes- und Bekanntenkreis. Also sucht Mona auf eigene Faust nach ihr, forscht im Ort und im persönlichen Umfeld nach und taucht gegen den Willen ihres Opas tief in die Familiengeschichte ein. Sie findet in Omas zurückgelassener Geldbörse ein Babyfoto, das weder einen ihrer beiden Onkel Stefan und Sven noch ihre Mutter Sabine zeigt. Je tiefer sie dann in den Familiengeheimnissen gräbt, desto Unfassbareres fordert sie zu Tage.
Im Mittelpunkt von Katja Keweritschs Roman stehen Frauen aus unterschiedlichen Generationen, deren Geschichten in unterschiedlichen Strängen erzählt werden. Jede der Frauen ist an einem Punkt im Leben mehr oder weniger gewollt schwanger und die Autorin zeigt auf, dass sich im Lauf der Zeit für die Frauen außer ihrer rechtlichen Situation nicht viel verändert hat.
Annemie war in den 1960ern als unverheiratete Minderjährige schwanger (damals lag das Alter für die Volljährigkeit noch bei 21) und hatte keinerlei Rechte. Die Vormundschaft für ihr Kind konnte nur der Vater des Kindes oder ihr eigener Vater übernehmen, alleinstehenden Frauen wurde nicht zugetraut, für ein Kind sorgen zu können und ihm ein „stabiles Umfeld, ein moralisch einwandfreies Zuhause“ bieten zu können.
Janne wurde zu Anfang ihrer Beziehung mit Stefan schwanger und die beiden haben deswegen geheiratet. Die Ehe ist nicht glücklich, Stefan leidet unter einer Zwangsstörung und lässt seine Frau mit der kompletten „Care-Arbeit“ und dem mental load mit den inzwischen drei Kindern allein, flüchtet sich in Sport und die freiwillige Feuerwehr.
Mona, die jüngste der Frauen in der Familie, ist ebenfalls ungeplant schwanger. Sie ist die erste, die von niemandem unter Druck gesetzt wird, heiraten zu müssen, sie hat auch die Wahl, das Kind eventuell gar nicht erst zu bekommen. Als frischgebackene Restauratorin stößt sie in ihrem ersten Job nach Ausbildung und Studium allerdings auf geballte männliche Toxizität und muss sich mit Frauenfeindlichkeit und Altherrenwitzen herumschlagen.
Das Verschwinden von Oma Annemie und die halbherzige Suche nach ihr ist Nebensache im Buch und kann symbolisch für die Suche nach Identität und des weiblichen Selbstverständnisses gesehen werden. Auch die dysfunktionale Familie ist nicht das Hauptthema, auch wenn diese exemplarisch die Quelle von allem ist. Es geht um Unterjochung und Befreiung, schwarze Pädagogik nach Haarer und die Tatsache, dass sich zwar einiges getan hat, aber immer noch nicht genug.
Sprachlich fand ich das Buch enorm ansprechend, eigentlich wollte ich es nur „anlesen“ und kaum hatte ich mich versehen, war ich durch die Seiten geflogen und am Ende angelangt. Die Beschreibungen der Gefühle, der innere Monolog und die Gedankenwelt – das alles hat mich wirklich gefesselt. Dazu kommt die Marschlandschaft, die eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Auf die verschiedenen Erzählstränge muss man sich einlassen, zumal man anfangs nicht genau weiß, wer die Personen im Mittelpunkt sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Aber je tiefer man in die Geschichte eintaucht, desto einfacher wird es meiner Meinung nach.
So vieles, was Katja Keweritsch beschreibt, kenne ich aus meiner eigenen Familie, auch meine Oma hat nach den Lehren von Johanna Haarers Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ erzogen und auch bei ihr ging es ungut aus. Mich hat das Buch tief berührt. Von mir gibt es fünf Sterne.
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