Niemals hätte ich gedacht, dass mich ein Buch über die Entwicklung der Landwirtschaft im Münsterland so begeistern könnte, vor allem, da es in meiner Familie seit mehreren Generationen keine Landwirte mehr gab. Aber Ewald Fries Herangehensweise an das Thema hat mich wirklich beeindruckt und ich habe sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ sehr gern gelesen. Der Historiker hat seine eigene Familiengeschichte, die des Hofs Horst Nr. 17 bei Nottuln im katholischen Münsterland, in die allgemeine Geschichte des Wandels eingeflochten und eingeordnet, wodurch Zeitgeschichte ein Gesicht bekommt (die Namen seiner Familienangehörigen hat er anonymisiert, ihre Geburtsjahrgänge sind allerdings authentisch). Als Rahmen dient ihm eine Sammlung transkribierter Interviews, die er mit seinen Geschwistern geführt hat, seine Eltern sind inzwischen verstorben und kommen nur aus zweiter Hand zu Wort. Sein ältester Bruder ist im Jahr 1944 geboren, die jüngste Schwester 25 Jahre später, von zwölf Kindern haben elf überlebt – auch im 20. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit.
Ging das bäuerliche Leben in der Nachkriegszeit zu Ende? Man könnte es so oder so sehen. Es wandelte sich auf jeden Fall grundlegend. Ehemals hochangesehen, haben die Bauern lange auf die Bewohner der Siedlungen hinabgesehen – die Hierarchien innerhalb der Gemeinschaft waren klar. Und dann wurde plötzlich alles anders, denn auf einmal wurden Bauern als ungebildet, ärmlich und rückständig angesehen, da halfen auch alle Modernisierungen nicht. Die Betriebe veränderten sich natürlich, aber auch das Leben der Menschen, die die Höfe führten und auf ihnen lebten. Die Zeiten der kleinen Höfe ging zu Ende, die meisten Höfe spezialisierten sich auf ein bestimmtes Gebiet (die Familie des Autors auf die Zucht rotbunter Rinder und Kühe, sein ältester Bruder Hermann später auf Schweine und Ferkel), aus den Höfen wurden „Einmannbetriebe“. Arbeitspferde wurden durch Traktoren ersetzt, oft verfolgten die Kinder der Bauern andere Lebensentwürfe und manchem mögen die Eltern sogar mit der Zeit peinlich geworden sein. Tatsächlich haben auch in Fries Familie die meisten Kinder die Landwirtschaft verlassen. Nach einhelliger Aussage aller Geschwister standen ihnen die Eltern bei der Berufswahl nie im Weg, nein, vor allem die Mutter bestärkte sie darin, ihren eigenen Weg zu gehen. Vor allem für die Töchter sah sie eine Heirat nie als Lebensziel an.
Den Wandel im bäuerlichen Leben gab es überall, dennoch empfand ich das, was Frie beschreibt als etwas völlig anderes als das, was ich beispielsweise aus dem Schwarzwald oder der Eifel kenne. Vor allem, so scheint es, war Ewald Fries Vater gegenüber dem Fortschritt eher offen. Der Hof wurde in den 1960er-Jahren vom Pferd auf den Traktor umgestellt, elektrische Haushaltsgeräte wurden angeschafft und der Hof bekam eine Heizung. Das Leben wurde ein wenig einfacher und schlicht anders. Heute sind die Erinnerungen der Geschwister an die Eltern und ihre Kindheit geprägt von einer Mischung aus Respekt und Dankbarkeit. Die Söhne erinnern sich zwar daran, dass es eine Plackerei war, dass es nicht einfach war, mit dem Vater zusammen zu arbeiten und die Töchter, dass sie sich schon früh um die kleineren Geschwister kümmern mussten. Sie erinnern sich aber auch daran, dass die aufrechte Haltung ihrer Mutter ein Zeichen dafür war, dass sie sich trotz der harten Arbeit nicht „krumm“ schuften musste.
In Ewald Fries Brust scheinen zwei Herzen zu schlagen. Das des Historikers Frie und das des Bauernsohns. Und so schafft er ein mehrdimensionales Werk, in dem er Hofgeschichte, Lebensgeschichte und Zeitgeschichte miteinander verflicht, zusammen einordnet und alles in allem ein interessantes und informatives Werk schafft, das mich in seiner Intensität und Dichte begeistert hat. Von mir fünf Sterne.
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