„Josses Tal“ ist der Debütroman der Autorin Angelika Rehse, den sie mit 74 Jahren veröffentlicht hat. Es ist eine bedrückende Geschichte über (Familien)Ehre und toxische Freundschaften zwischen 1930 und 1943, über Mitläufertum, falsche Vorbilder, politische Puppenspieler, Schuld und Reue. Es handelt von der Geschichte von Josef Tomulka, genannt Josse, der 1925 als uneheliches Kind geboren wurde, was vor allem aus Sicht seines Großvaters eine Schande für die Familie war. In dem Entwicklungsroman, bei dem die Entwicklung in eine gefährliche Richtung geht, erzählt der in der norwegischen Einöde lebende Protagonist seine Geschichte in Rückblenden und nimmt die Leserschaft mit in seien Kindheit und Jugend im damaligen Schlesien. Ein gut erzähltes, ansprechend geschriebenes und nachdenklich machendes Buch.
Aber von vorn.
„Also die Leinwand, auf der mein Leben gemalt ist, war von vornherein nicht weiß. Sie war vergilbt und rissig und wurde im Laufe der Zeit mit hässlichen Brauntönen bemalt.“ So beginnt Josse seine Lebensgeschichte. Seine Kindheit ist geprägt von den Schlägen des Großvaters, der Unterwürfigkeit der Großmutter und der Verzweiflung der Mutter. Er ist ein uneheliches Kind, die Mutter hat die Identität seines Vaters nie preisgegeben. Dafür, dass die Mutter ein „rumgewischtes Frauenzimmer“ ist, lässt der Großvater den Jungen leiden. Für einen Neuanfang zieht die Familie um und schon am ersten Tag trifft Josse auf Wilhelm, den Sohn der neuen Nachbarn. Der junge Medizinstudent beschützt ihn vor den Schlägen des Großvaters und wird fortan ein Idol für den kleinen Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dem Vorbild zu gefallen und irgendwann auch eine braune SA-Uniform zu tragen. Lange lässt sich Josse von dem Älteren leiten, der ihn ein „Prachtkind“ nennt und fortwährend lobt und nach und nach wächst er in die nationalsozialistischen Strukturen hinein. Dienste bei den Pimpfen und der HJ begeistern ihn, endlich findet er etwas, bei dem er glänzen kann und ein Gefühl der Dazugehörigkeit erlebt. Ohne nachzudenken, bespitzelt er Nachbarn und Bekannte. Seine Mutter stirbt an Diphtherie, Bücher werden verbrannt, jüdische Mitbürger werden deportiert, der Krieg bricht aus – und mittendrin ist Josse, dem die Mutter auf dem Totenbett ein Geheimnis anvertraut hat, das ihn in riesige innere Konflikte bringt und ihm die Augen öffnet, als es schon fast zu spät ist.
Was für ein Buch! Angelika Rehse hat einen Entwicklungsroman geschrieben, der das Heranwachsen eines jungen Menschen zur Zeit der Nationalsozialisten beschreibt. Es war die Zeit, in der meine Großeltern aufgewachsen sind, die Zeit, in der Rattenfänger wie Wilhelm beeinflussbaren Kinder und junge Menschen mit ihrem Gedankengut indoktrinierten und sie alles in allem so manipulierten, bis ihr moralischer Kompass nicht mehr verlässlich funktionierte. Gar nicht so weit weg von dem, was wir momentan wieder erleben, umso wichtiger sind solche Bücher, um die Anfänge zu erkennen und dagegen anzugehen. Damals wie heute „ernähren“ sich die radikalen Strömungen (nicht nur in der Politik, sondern auch in der Religion) von unsicheren, unzufriedenen und „abgehängten“ Menschen, die Bestätigung und Anerkennung suchen.
Trotz der angenehmen und leichten Sprache ist das Buch keine leichte Kost. Die Atmosphäre ist fast durchgehend bedrückend und gewaltbeladen, Josses Unsicherheit und seine inneren Konflikte sind spürbar. Wieso er Wilhelm so verehrte, ist nachvollziehbar – er suchte eine Vaterfigur, einen Freund und ein männliches Vorbild, so etwas hatte vorher in seinem Leben gefehlt. Angelika Rehse hat damit ein fulminantes Debut vorgelegt, das Lust auf mehr macht und einen zum Nachdenken bringt. Ein beeindruckendes Wert, von mir fünf Sterne dafür.
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