Keine Ahnung, wie mir das passieren konnte, aber bislang kannte ich den finnischen Autor Max Seeck noch nicht. „Waiseninsel“ heißt der vierte Band seiner Serie um die Kriminalbeamtin Jessica Niemi, die in Helsinki ihren Dienst tut. Das Buch hatte auf mich eine starke Sogwirkung, einmal damit angefangen, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Keine Ahnung, wie gut oder schlecht die anderen Teile der Reihe sind, „Waiseninsel“ hat mich gepackt und begeistert.
Aber von vorn.
Jessica Niemi kämpft. Psychologisch gegen ihre Dämonen (man erfährt
etwas über die Schizophrenie ihrer Mutter, ihre eigenen Halluzinationen und
andere psychische Probleme weswegen sie in Therapie ist) aber auch physisch
gegen den Hausmeister eines Mehrfamilienhauses, der sie bedrängt. Da dies
gefilmt und im Internet veröffentlicht wird, schickt ihre Chefin sie in
Zwangsurlaub. Dass die Reise sie ausgerechnet auf die zwischen Finnland und
Schweden gelegenen Åland-Inseln führt, ist Zufall. Aber statt dort Ruhe und
Erholung in einem kleinen Hotel zu finden, trifft sie auf die „Zugvögel“, eine
kleine Gruppe Menschen über 80, die sich dort jährlich trifft. Als Kinder waren
sie nach dem Zweiten Weltkrieg (genauer gesagt, nach dem Winter- und dem
Fortsetzungskrieg) 1946 auf der Insel Smörregård im Kinderheim untergebracht.
Ursprünglich sollten sie auf der Insel ihre Eltern treffen, nachdem sie im
Krieg in die anderen skandinavischen Ländern in Sicherheit gebracht worden
waren. Deren Schiff sank allerdings und die neun Kinder waren Waisen. Auch
damals existierte Mobbing unter den Kindern, vor allem Maija litt unter der
älteren Beth und ihren Freundinnen. Eines Nachts verschwand sie spurlos. Seither
kursiert die Legende vom „Mädchen im blauen Mantel“. Das Mädchen wird immer
wieder auf der Insel gesehen, meistens am Bootssteg, so auch 1982, als der
Nachtwächter des Kinderheims zu Tode kommt, der auch schon 1946 dort war. Und
jetzt, 2020, stirbt kurz nach der Ankunft ein Mitglied der „Zugvögel“ und die
Zeichen stehen auf Mord. Jessica ermittelt heimlich, ausgebremst vom örtlichen
Polizisten Johan Karlsson. Jessica fürchtet, dass auch die übrigen „Zugvögel“
in Gefahr sind, und möchte dem Mörder zuvorkommen.
Der Krimi war für mich ein überraschend wilder Ritt. Eine
überaus düstere und mysteriöse Atmosphäre trifft auf einen historischen
Hintergrund. Die Geschichte spielt in drei Zeitebenen: 1946 begleiten wir Maija
in ihrem trostlosen Leben im Kinderheim. 1982 den Nachtwächter Martin bis zu
seinem Tod am Bootssteg. Der umfangreichste Erzählstrang ist die Gegenwart, in
der die Leserschaft von einem neutralen Erzähler das erfährt, was Jessica
erlebt und was sie umtreibt. Für mich als Neuling in der Serie waren das fürs
Verständnis wichtige Einblicke in ihr Leben und ihre Vergangenheit.
Die Spannungskurve des Buchs fand ich hervorragend, gegen
Ende wurde es für mich fast unerträglich spannend, vor allem, da es einige
Wendungen gibt. Die Atmosphäre wird vom Autor sehr gut ausgearbeitet. Die
abgeschottete Insel, die wenigen Menschen, das ehemalige Waisenhaus, das eher
an eine Kaserne erinnert als an eine Umgebung, in der Kinder aufwachsen sollen
– das alles bietet Potenzial für Unbehagen und Gänsehaut. Dazu kam für mich ab
und zu ein Gefühl der Surrealität. Ist das Mädchen im blauen Mantel nun eine
Legende oder gibt es einen realen Aspekt. Jessicas Halluzinationen, Klarträume
und „Gespräche“ mit nichtexistenten Personen machten das Ganze für mich nicht
einfacher zu verstehen, aber umso gruseliger. Und dazu kommen dann die Morde
und zahlreiche Verdächtige. Natürlich kann man das Setting als altbekannt und
unoriginell sehen, natürlich hat man Krimis dieser Art schon hunderte Male
gelesen, das fällt sogar dem Ermittler Johan Karlsson im Gespräch mit Jessica
auf: „»Das ist ja wie eine Mischung aus Agatha Christies besten Werken«“. Mich
hat das Buch trotzdem auf ganzer Linie überzeugt und begeistert. Von mir fünf
Sterne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.