Freitag, 16. November 2018

Die Gewitterschwimmerin - Franziska Hauser


Die Autorin und Fotografin Franziska Hauser hat das vorliegende Buch an ihre eigene Geschichte und die ihrer Familie angelehnt. Sie selbst wurde  1975 in Ost-Berlin geboren und erlebte die DDR hautnah mit. Ihre Hauptdarstellerin und Ich-Erzählerin Tamara wird 1951 geboren (gehört also zu ihrer Eltern-Generation), der Ausgangspunkt der Geschichte ist das Jahr 2011, als ihre Mutter Adele überraschend stirbt und sie deren Haus erbt.

Indem sie das Haus auf- und ausräumt, mit dem Vorschlaghammer darin wütet und viele Erinnerungsstücke schlicht auf dem Rasen verbrennt, stellt sich Tamara den Dämonen ihrer Vergangenheit, ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer Familie und setzt sich damit auseinander. Durch die Konfrontation mit Erinnerungsstücken taucht sie in die Vergangenheit ein und nimmt den Leser auf die (leider oft chaotische) Reise mit.

Die ersten paar Kapitel las ich das Buch mit großer Begeisterung. Es ist wie das Blättern in einem Familienalbum mit wahllos aneinandergereihten Bildern aus vier Generationen. Man lernt Tamara kennen (eine 1951 geborene Puppenspielerin), ihre soeben verstorbene Mutter Adele und nach und nach, praktisch im Rückwärtsgang (der Ausgangspunkt der Geschichte ist Adeles Tod 2011) den Rest der Familie kennen: Tamaras Schwester Dascha, Tamaras Töchter Henriette und Maja, die aber eher kleinere Nebenrollen spielen, Tamaras Eltern Alfred und Adele (überzeugter Kommunist und gefeierter DDR-Schriftsteller und protestantische Pfarrerstochter), Alfreds Eltern Friedrich und Ilse und ihren Onkel Erwin nebst Frau.

Die Familiensaga zieht sich in (für den Leser willkürlichen) Zeitsprüngen erzählt quer durch das Jahrhundert, vom Ende des 19. Jahrhunderts über zwei Weltkriege, den Aufbau und das Ende der DDR bis zum Jahr 2011. Die Familie Hirsch lässt nichts aus: aus dem tiefsten Schwarzwald durch die Wirrungen der Kriege nach England und Frankreich verschlagen, landen sie nach Kriegsende freiwillig und aus vollster Überzeugung in der DDR.

Krieg, Verfolgung, Emigration, Widerstand, Rückkehr und dann das „Eingesperrt-Sein“ in der DDR, das vor allem die rebellische Tamara belastet – alles wird in der Familie erlebt. Dabei ist die Familie   priviligiert, Alfred und Adele reisen oft und viel im Auftrag der Partei.

Und insgesamt schildert das Buch sehr extreme Kontraste, die aufeinander treffen. Überzeugter Kommunist trifft auf protestantische Pfarrerstochter (sie lässt sogar das gemeinsame Kind heimlich taufen), Emanzipation trifft auf Patriarchat, Intellektueller auf eher einfache Frau (die er aber nach seinen Wünschen zu formen versucht) – und die Leidtragenden sind die Kinder. Dascha ist schon in jungen Jahren tabletten- und alkoholabhängig und Tamara entwickelt sich zu einer extrem rebellischen und promisken jungen Frau. Sie eckt in der Schule an, später tut sie sich schwer, einen Beruf zu finden. Daher auch der Titel des Buchs - sie liebt die Gefahr und schwimmt bei Gewitter in offenen Gewässern.

Und irgendwann habe ich dann zwischen Tamaras zahllosen Affären den Faden und den Spaß an dem Buch verloren. Nach und nach erfährt der Leser den Grund für Tamaras promiskes Verhalten: sie und auch Dascha wurden vom Vater als auch von der Mutter und dem befreundeten Arzt „Onkel Anton“ sexuell missbraucht. Übergriffigkeiten sind Alltag, Recht auf freie Bestimmung existiert nicht, Tamara nimmt sich dieses Recht später, indem sie ihre Sexualität exzessiv mit wechselnden Partnern auslebt (wohgemerkt: die Sexualität). Wirkliche Liebe findet sich in dem Roman kaum. Vor allem nicht bei den Eltern von Tamara und Dascha – sie lieben einander nicht wirklich und die Mutter verhält sich den Töchtern gegenüber kalt und abweisend. Kein Wunder, auch sie hat früh Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt machen müssen.

Und so zieht sich eine Spur von Gewalt (im Krieg und in den Beziehungen) durch den Roman, der Leser wird auf die Reise durch die Jahre, die Ehen und die Geschichte (Familie Hirsch umgibt sich mit bekannten Persönlichkeiten, wie beispielsweise Sophie, der Tochter von Sigmund Freud und später mit DDR-Honoratioren) mitgenommen. Ich fühlte mich manchmal ein wenig am Straßenrand zurückgelassen und vergessen. Vielleicht hätte ich mir von Anfang an einen Stammbaum anlegen sollen (im Buch ist zwar einer, aber der ist sehr minimalistisch) damit ich die Wirrungen in der Familie nachlesen und nachvollziehen hätte können. Habe ich leider versäumt. Sollte ich das Buch noch einmal lesen, werde ich es wohl tun.

Sympathisch ist mir die ich-Erzählerin Tamara nicht. Ihre ständig wechselnden Geschlechtspartner (sie hat aus zwei Beziehungen Kinder) machen die Geschichte für mich als zahllose Nebenschauplätze unübersichtlich und vielleicht hätte es derer auch nicht ganz so viele gebraucht. Ihre Schwester Dascha weckt da eher den Beschützerinstikt im Leser. Das Mädchen, das schon als Kind nicht lügen kann, mit 13 tabletten- und alkoholabhängig wird und sich schließlich das Leben nimmt konnte zumindest meine Sympathie am ehesten von allen Charakteren des Buchs gewinnen. Vor allem, da ihre Schizophrenie und ihre Depressionen damals noch mit Elektroschocks behandelt wurde und sie mehrere Abtreibungen durchleiden muss, weil sie eine Schwangerschaft nach Meinung von „Onkel Anton“ nicht verkraftet hätte. 

Die Sprache, in der die Ich-Erzählerin Tamara erzählt, ist gewöhnungsbedürftig.  Sie ist grob und (vielleicht auch durch das „Berlinern“) etwas derb und erinnert an Gossensprache. Kontrast dazu ist der badische Dialekt der Großeltern. Ich vergebe für das Buch 3 Sterne. Einen für die Schilderung der Charaktere, die man sich beim Lesen sehr gut vorstellen kann. Einen für den geschichtlichen Kontext und einen für die Vielschichtigkeit und Komplexität der Geschichte, die vermutlich denen, die die DDR miterlebt haben eher zusagen wird, als mir.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.