Dienstag, 23. März 2021

Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal - Maurice Philip Remy

„Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal“ von Maurice Philip Remy ist ein Buch, das mich in mehrerlei Hinsicht fassungslos zurückgelassen hat. Es ist für mich nicht nur ein Buch über einen „Kunstskandal“, sondern ein Buch über viel mannigfaltigere Skandale. Denn es umfasst neben dem „Skandal“ der gefundenen Kunstwerke auch skandalös unsaubere Ermittlungsarbeit von Polizei und Zoll, skandalös unseriöse Politiker und skandalös unethische Pressearbeit. Der Autor entwirrt auf über 400 Seiten (plus mehr als 100 Seiten Quellenangaben) minutiös die Fäden, die bei Cornelius Gurlitt 2013 zusammengelaufen sind, in dem Jahr, als der Focus „Der Nazi-Schatz“ titelte und herausposaunte, dass in Gurlitts Münchner Wohnung 1500 Beutekunst-Stücke gefunden worden wären. Heute würde man das „Fake News“ nennen.

Der Inhalt des Buchs ist komplex und kompliziert. Fakt ist aber, dass der 80jährige Cornelius Gurlitt rüde aus seiner Anonymität gerissen wurde, als im Focus der oben genannte Artikel über ihn und seine ererbte Kunstsammlung erschien. Das Blatt nannte seinen kompletten Namen samt Wohnort und warf ihn damit praktisch der gesamten Journaille zum Fraß vor. Fakt ist auch, dass die genannten Zahlen falsch waren, vor allem der auf über eine Milliarde Euro bezifferte Wert der Sammlung und die Anzahl der „Beutekunst-Werke“, die schnell von 1500 auf nicht einmal ein halbes Dutzend zusammenschmolz. Fakt ist auch, dass Zoll und Polizei bei Gurlitt die Kunstwerke nach einer Hausdurchsuchung beschlagnahmte. „Die Begründung der Amtsrichterin aus Augsburg stand nicht im Einklang mit den Richtlinien für ein rechtsstaatliches Strafverfahren. Es bedarf zwingend konkreter Hinweise auf eine Straftat und zudem einer klaren zeitlichen Eingrenzung auf den Zeitraum, wann sie begangen worden sein soll. Beides fehlte im vorliegenden Fall.“ Sie genehmigte damit einen „Beschlagnahmeexzess gegen rechtsstaatliches Handeln“, für den der Begriff „Der Schwabinger Kunstfund“ viel weniger zutreffend ist, als „Der Schwabinger Kunstraub“.

Maurice Philip Remy hat den Fall Gurlitt in jahrelanger Recherche aufgearbeitet und präsentiert in dem Buch die Ergebnisse. So stellt er die Familie Gurlitt ab dem Großvater Louis dar, der 1812 den Grundstein für die Sammlung legte, die Cornelius Gurlitts Vater Hildebrand als Kunsthändler ausbaute und dann an seine Frau und letztendlich an seinen Sohn vererbte. Er beschreibt die Familiengeschichte, die Geschichte von jüdischen Familien, mit denen Hildebrand Gurlitt Geschäfte gemacht hat und die Vorgänge rund um den „Schwabinger Kunstfund“ fast wie einen Krimi. Rasant erzählt, präzise und mit unzähligen Fakten, Quellen und Querverweisen untermauert. Ein angenehmes Buch über ein unangenehmes Thema: die Enteignung von Juden in der NS-Diktatur. Angenehm fand ich es aus dem Grund, dass der Autor es schafft, trotz manchmal sehr emotionaler Passagen, die nötige journalistische Distanz zu wahren und nicht auf einen Populismus-Zug aufzuspringen. Er gibt den Menschen hinter der Geschichte eine Stimme, zeigt sie aber mit Licht- und Schattenseiten. Denn natürlich wurden auch auf Gurlitts Seite Fehler gemacht. Aber nichts, was die spätere Hatz auf Cornelius Gurlitt gerechtfertigt hätte. Die war wohl blinder Aktionismus. „Dabei ist davon auszugehen, dass die Verantwortlichen im Grunde von der guten Absicht getrieben waren, NS-Unrecht aufzuklären und, wo möglich, zu heilen [...] Aber all das kann nicht rechtfertigen, dass hierbei neues Unrecht begangen wurde.“Ob das Buch es schafft, den Namen Gurlitt rein(er) zu waschen, bleibt fraglich. Auf jeden Fall kann es an Cornelius Gurlitt nichts mehr gutmachen, er ist inzwischen verstorben. Was bleibt ist ein spannendes, wohlformuliertes Sachbuch, fast ein True-Crime-Thriller über Behörden-Versagen, Aktionismus und moralisch verwerfliches Handeln der Medien. Ein Lehrstück, wie neutraler Journalismus funktionieren sollte. Von mir 5 Sterne und eine klare Lese-Empfehlung.

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