Samstag, 5. Juni 2021

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit - Dr. Mai Thi Nguyen-Kim

Es gibt weder die eine Wahrheit noch die eine wahre Wirklichkeit.

„Noch nie zuvor gab es so viel Wissen – und so viele Meinungen.“ - dieser Satz aus dem Vorwort von Mai Thi Nguyen-Kims Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ ist vermutlich die beste Charakterisierung des momentanen Zustands. Nicht nur Corona hat mir (und sicher sehr vielen anderen) gezeigt, dass Wissen, Verstehen und Deuten wichtiger ist, denn je. Und das Handwerkszeug, um mit dem Wissen richtig umgehen zu können, gibt die Autorin ihren Lesern in ihrem Buch an die Hand.

Die Autorin ist promovierte Chemikerin und ausgezeichnete (u.a. Grimme Preis 2021) Wissenschaftsjournalistin. Bekannt ist sie unter anderem durch TV-Formate wie Quarks oder ihren eigenen YouTube-Kanal „maiLab“, bei beiden versucht sie, Wissenschaft und schwierige Themen einfach zu erklären. Das macht sie auch in ihrem Buch, in dem sie anhand verschiedener Themen Forschung und Methodik erklärt und zeigt, wie Studien funktionieren und worauf man bei der Interpretation von Studienergebnissen achten sollte. Und sie erläutert dabei außerdem unter anderem Begriffe wie Korrelation und Kausalität, Placebo und Nocebo und Bias (sowohl Publication Bias als auch Confirmation Bias). Mai zeigt für den Laien verständlich, wie Wissenschaft und wissenschaftliche Arbeit funktioniert (oder funktionieren sollte), was wissenschaftliches Denken überhaupt ist und wie man Studienergebnisse interpretiert. Eine gewisse Skepsis gehört auch für sie dazu, sie bringt ihrer Meinung nach sogar die Wissenschaft voran („zumal Skepsis doch die DNA von Wissenschaft und Forschung ist“). Vor allem momentan, wo Impfen, Impfstoffentwicklung/-zulassung

Vieles von dem, was sie in ihrem Buch zusammengestellt hat, kannte ich so oder ähnlich schon von ihrem YouTube-Kanal, einiges war mir aber auch neu. Außerdem fand ich es auch ganz schön, Internet-Inhalte praktisch transkribiert und aufbereitet, unterfüttert mit zusätzlichen Informationen und Illustrationen, schwarz-auf weiß in der Hand zu halten. Ein Buch ist halt doch noch mal etwas anderes als ein Video. Themen des Buchs sind neben Legalisierung von Drogen und dem Gender Pay Gap auch Videospiele und Gewalt, alternative Medizin (in diesem Zusammenhang erklärt die Autorin auch Placebo und Nocebo), Intelligenz (hier schlägt sie den Bogen zu Vererbung und Genetik) und Tierversuche. Und natürlich darf auch das Thema „Wie sicher sind Impfungen“ mit einem Exkurs zu Wirkungen und Nebenwirkungen nicht fehlen.

Die Sprache, derer sich die Verfasserin bedient, ist so frech-flapsig, wie man es von ihr gewohnt ist, so liest sich das Buch vermeintlich sehr leicht, an manchen Stellen fand ich diese Lockerheit tückisch, die musste ich nämlich mehrfach lesen, um den Inhalt komplett zu verstehen und zu verinnerlichen. Denn Fakt ist, dass das Buch zwar für den interessierten Laien geschrieben ist, aber das Buch ist nichts zum „nebenher lesen“. Wie auch im Leben empfiehlt es sich bei dem Buch mit dem Verstand bei der Sache zu sein, es kritisch zu lesen, zu hinterfragen und sich gewiss zu sein, dass es keine einfachen Antworten gibt. Wissenschaftlicher Diskurs ist eine immerwährende Diskussion und er wird immer nur zur kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit führen. Mai-Thi Nguyen Kim gibt ihren Lesern praktisch eine Lupe an die Hand, um für sich selbst herauszufinden, wo die Grenze zwischen einer gesunden Skepsis und Verschwörungsmythen verläuft. Denn tatsächlich gibt es in der Naturwissenschaft nie ein völlig richtiges Modell, sondern immer nur das beste Modell, das zum aktuellen Zeitpunkt verfügbar ist. Alles in allem ein wirklich gutes Buch und ein Plädoyer für die wissenschaftliche Aufklärung. Von mir fünf Sterne.

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