Dienstag, 8. Juni 2021

Real Life - Brandon Taylor

Eine Geschichte über Alltagsrassismus, einen jungen Mann mit vielen ungelösten Konflikten in seinem Umfeld, aber auch in seinem Inneren und seinen Wunsch, dazuzugehören – so würde ich die Geschichte von Wallace zusammenfassen, der im Mittelpunkt von Brandon Taylors Buch „Real Life“ steht. Wallace wollte unbedingt den Ort verlassen, an dem er aufgewachsen ist. Und so landet er als erster und einziger Schwarzer Doktorand an einer Uni im Mittleren Westen der USA. Hier hofft er, Akzeptanz und einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Das klappt allerdings nicht wirklich gut, denn sein offener Umgang mit seiner Homosexualität ist in seiner Clique kein Problem, seine Hautfarbe scheinbar schon. Er ist ständig (mal sehr subtil, mal ganz offen) größeren und kleineren Sticheleien ausgesetzt, bis hin zu klaren Ausgrenzungen und Mobbing. Dabei steht er in der Gruppe immer alleine da, von ein paar seiner „Freunde“ wird er zwar getröstet, aber nur, wenn sonst niemand dabei ist, in der Gruppe steht niemand wirklich offen zu ihm.

Der Autor beschreibt in seinem Roman einen sehr kurzen Zeitraum im Leben von Wallace. Das Buch vereint psychologische, politische und gesellschaftliche Elemente zu einem sehr realistischen Ganzen, metaphorisch mehr oder weniger auch in der Versuchsreihe des Protagonisten aufgegriffen: Wallace macht Experimente in Petrischalen, die durch eine Kommilitonin sabotiert werden. Genauso werden seine Versuche, an der Uni und im Freundeskreis Fuß zu fassen, von anderen torpediert. Ebenso wie seine Nematoden, droht er zu verkümmern, obwohl er sowohl in seine Forschung, als auch in seinen Versuch, dazu zu gehören, sehr viel Arbeit und Mühe steckt. Und natürlich sucht Wallace nicht nur Freunde und Anerkennung, er sucht auch einen Partner, was sich ebenfalls als ziemlich kompliziert erweist.

Ich bin bei dem Buch etwas zwiegespalten, ebenso wie ich den Charakter von Wallace als sehr zwiegespalten, schwierig und nicht wirklich sympathisch erlebe. Einerseits ist er völlig devot und entschuldigt sich ständig und hat keinerlei Selbstwertgefühl („Meine Seele war schwarz, eine faulige Wunde“). Andererseits legt er sehr destruktive Wesenszüge an den Tag, stößt andere ebenso vor den Kopf, wie die ihn. Irgendwie scheint er in seinem eigenen Leben fremd zu sein, unbeholfen und eher unreif.

Die Geschwindigkeit, mit der der Autor die Geschichte erzählt, ist sehr hoch, denn er packt in die wenigen Tage sehr viel Inhalt, in den Zeilen, aber auch dazwischen. Wallaces Kindheit, das schwierige Verhältnis zu seinem kürzlich verstorbenen Vater, seine Probleme, in Gesellschaft und Leben einen Platz zu finden – das sind nur ein paar der Themen, die der Autor in klarer, einfacher aber enorm bildreicher und schonungsloser Sprache serviert. So viel Traurigkeit („Ich hasse es überall.“), Schuldgefühle, Versagensängste, Ausgrenzung und Einsamkeit in so schlichten Worten nahmen mich beim Lesen wirklich mit. Dazu die deutliche Beschreibung des (Alltags)Rassismusses, dem sich Wallace stellen muss – da musste ich oft schlucken, aber auch mein eigenes Handeln überdenken, denn manche Situationen, in denen er sich findet, entstehen aus Ereignissen der Kategorie „gut gemeint ist nicht gut gemacht“. So werden Wallace seine „Privilegien“ vorgehalten, ihm wird Frauenhass vorgeworfen und er solle doch froh sein, trotz seiner „Defizite“ so weit gekommen zu sein. Defizite sind sowohl sein Schwarz-Sein, aber auch seine Homosexualität und seine eher ärmliche Herkunft und die Tatsache, dass er hauptsächlich aufgrund eines Stipendiums studieren kann.

Alles in allem fand ich das Buch gut zu lesen, aufgrund der Dichte der Ereignisse und Emotionen, aber auch der angerissenen Themen, war es keine einfache, aber eine äußerst lohnenswerte Lektüre. Allerdings lässt mich der offene Schluss eher ratlos zurück. Da ich mir ein runderes Ende gewünscht hätte, vergebe ich vier Sterne.

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