Dienstag, 31. August 2021

Eine ganze Welt - Goldie Goldbloom

„Eine ganze Welt” von Goldie Goldbloom ist ein Buch, das auf meiner Bücher-Hitliste ganz oben gelandet ist. Ich habe selten einen Roman gelesen, der mich auf so unterschiedliche Art berührt hat.

Surie Eckstein ist 57 Jahre alt, hat zehn Kinder, 32 Enkel und das erste Urenkelkind ist unterwegs. Endlich sind alle aus dem Gröbsten raus und sie freut sich darauf, Zeit für sich zu haben. Aber völlig überraschend ist Surie 41 Jahre nach ihrem ersten Kind erneut schwanger und das auch noch mit Zwillingen. Sie macht sich wegen der Schwangerschaft große Sorgen. Dabei denkt sie aber mehr an das Gerede in der strenggläubigen chassidischen Gemeinde, weniger an eventuelle gesundheitliche Probleme für extrem Spätgebärende. Daher verheimlicht sie die Schwangerschaft, denn „Eine Geburt würde öffentlich bekanntmachen, dass sie und Yidel sich lange über das normale Alter des Kinderkriegens hinaus noch begehrenswert fanden“. Mit jeder Seite wachsen ihre Freude auf die Kinder, aber auch ihre Unsicherheit und ihre Angst vor der Schande („Ihre armen Enkelinnen! Sie würden dem neuen Status der Familie nie entkommen können, gleichgültig, wie tadellos sie oder ihre Mütter sich verhielten.“)

Dabei war es für die Familie schon schwierig genug, das Ansehen in der Gemeinde aufrecht zu erhalten, denn Sohn Lipa war homosexuell, HIV positiv und beging mit 22 Jahren Suizid. Surie fühlt sich daran mitschuldig, sie quält sich mit Selbstvorwürfen („Wäre es anders gekommen, wenn er einen jungen Mann hätte nach Hause mitbringen und seiner Familie vorstellen können, ihm die Fotoalben der Familie hätte zeigen und ihn an Chanukka zum Essen hätte einladen können? Wäre Lipa noch am Leben, wenn sie ihn einfach hätten lieben können, wie er gewesen war?“), während ihre bigotte Tochter Ruchel so tut, als habe es den Bruder nie gegeben.

Surie sitzt nicht nur zwischen zwei Stühlen, sie sitzt mitten in einem ganzen Stuhllager. Sie ist völlig hin- und hergerissen zwischen dem Glauben, dem sicheren, aber abgeschiedenen Leben in Gemeinde und Familie, und dem Wunsch nach einem etwas säkulareren Leben, einer Ausbildung als Laien-Hebamme („Und sie hatte auch von der Arbeit im Krankenhaus geträumt, vom Studium der Lehrbücher in der Mittagspause und der Hebammenprüfung, davon, eine chassidische Frau zu entbinden und ihr auf Jiddisch zuzureden.“) Den inneren Konflikt beschreibt die Autorin hervorragend, sie ist selbst chassidische Jüdin und Mutter von acht Kindern.

Sehr ans Herz ging mir der liebevolle Umgang zwischen Surie und Yidel. Ihre Ehe war arrangiert und dennoch sind die beiden ein wundervolles Paar. „Er hatte sie immer abgöttisch geliebt, ihren Kindern erklärt, dass ihre Mutter eine Heilige war, seine Liebe, seine Liebste, die Beste aller Frauen.“ Er ist tief im Inneren ein kleiner Rebell („Abends sang er unter der Dusche, bevor er ins Bett ging, obwohl chassidische Männer im Bad möglichst keinen Laut von sich geben. Ein Regelverstoß, aber ein kleiner.“) und ein großer Romantiker. („»Ich mag dieses alte Flanellnachthemd«, sagte er, als sie zurückkam. Es hatte lange Ärmel und einen hohen Kragen aus Spitze. Er legte den Arm um sie und die Lippen an ihren Nacken. »Es riecht wie du.«“)

Sprachlich fand ich das Buch hervorragend zu lesen, die meisten jiddischen Worte konnte ich mir erschließen. Die Sprache ist bildhaft und stark, die Geschichte mitreißend und berührend. Die Autorin schafft es, der Leserschaft eine ganze Welt, eine andere, völlig fremde Welt nahezubringen. Über das Buch wäre noch eine ganze Menge zu sagen. Fest steht aber, dass es ein wundervolles Buch über Glauben, Zweifel, Liebe, Religion, Aufbruch, (gute und böse) Geheimnisse, Familienzusammenhalt, Traditionen und noch vieles mehr ist. Chassidisches, bzw. streng jüdisch-orthodoxes Leben ist so viel mehr als Schläfenlocken, Biberpelz-Hüte und isoliertes und weltfremdes Leben. Für mich ein bewegender Ausflug und eine absolute Lese-Empfehlung, nein, eine Lese-Aufforderung! Fünf Sterne.

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