Dienstag, 28. September 2021

Der versperrte Weg - Georges-Arthur Goldschmidt

„Der versperrte Weg“ von Georges-Arthur Goldschmidt lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits finde ich die autobiografische Geschichte von Erich und Jürgen-Arthur gut und berührend, andererseits fühle ich mich vom Autor stets auf Distanz gehalten und durch die sehr nüchterne, fast tabellarische Erzählung außen vor. Der Autor berichtet eher, als dass er erzählt, er schafft keine Bilder oder Emotionen, was mir das Lesen schwierig machte.

Als Jürgen-Arthur (später Georges-Arthur)1928 geboren wird, ist die älteste Schwester schon 18. Das Leben seines Bruders Erich Leben verändert sich drastisch durch seine Ankunft („Mein Bruder war vier, als ich zur Welt kam und durch meine Erscheinung auf dieser Welt habe ich sein Leben zerstört“.). Er plante wohl sogar, dem Nachzügler die Augen auszustechen. Aber in ihrer Welt gibt es Schlimmeres als Eifersüchteleien zwischen Brüdern. Als 1933 die Nazi-Herrschaft beginnt, wird die protestantische Familie als jüdisch erklärt. Erich darf das Gymnasium nicht mehr besuchen und wird antisemitisch beschimpft und zur Hitlerjugend darf er, für den deutscher Nationalismus so wichtig ist, auch nicht.

Um sie zu schützen, schicken die Eltern die völlig unterschiedlichen Brüder 1938 ins Exil, erst nach Florenz, später nach Frankreich. Erich wird vom deutsch-Nationalisten („Alles Deutsche war Lebensinhalt für ihn.“) zum Widerstandskämpfer, schließt sich der Resistance an, später geht er zur Fremdenlegion. Die Brüder bleiben sich fremd, auch wenn sie im Exil als Schicksalsgemeinschaft lebten („Auf einmal war er dennoch gegenüber dem Bruder voller Zärtlichkeit gewesen, denn er war doch der Einzige, mit dem er ein Schicksal teilen würde. Weihnachten kam immer näher, ein Weihnachten ohne Schnee und Tannenbaum. Auf einmal fühlte er sich innigst mit dem kleinen Bruder verbunden, er war das, was noch von zu Hause geblieben war“). Die Eltern sehen die beiden nie wieder und einander nach dem Krieg nur wenige Male.

Kenner von Goldschmidt kennen dessen Geschichte vermutlich aus seinen anderen Werken, mir war der Autor vorher unbekannt. In diesem Buch schreibt er eine bekannte Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erneut, um seinem Bruder ein Denkmal zu setzen. Das gelingt ihm durchaus, denn in diesem Buch scheint auch er eine andere Sicht auf den Bruder zu bekommen. Geschwister sind nun einmal spezielle Schicksalsgemeinschaften. Man ist miteinander verwandt, ob man will oder nicht. Und ab einem gewissen Alter kann man getrennter Wege gehen, wie die beiden es ab 1943 taten. Rund 80 Jahre später holt er mit dem Buch nach, was er zu Lebzeiten des Bruders versäumt zu haben glaubt. Denn „Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen.“

Und so strickt der Autor eine Hommage an den Bruder aus Fakten und Gedanken. Grundlage sind wohl Erzählungen des Bruders bei einem Treffen in den 1970er Jahren. Und immer wieder taucht die Frage nach dem „was wäre gewesen, wenn…“ auf: „„Was wäre aus ihm geworden, wenn er ,Arier‘ gewesen wäre? Seiner Emigration verdankte er, nicht den falschen Weg eingeschlagen zu haben.“ – die Frage, ob der Dienst bei der Fremdenlegion denn der richtige Weg war, bleibt allerdings unausgesprochen. Auch andere Fragen bleiben unbeantwortet. Wie sehr prägt die Vergangenheit Gegenwart und Lebensweg? Wie ist es, wenn man sich selbst im Weg steht, keine Heimat findet, weil man sich entwurzelt und getrieben fühlt („Gerade in dem Augenblick, als für ihn einmal nichts mehr im Wege stehen sollte, war er selber zum Hindernis auf dem eigenen Weg geworden. Er war das einzige Instrument seines Unglücks.“)? Es ist ein Buch über ungleiche Menschen, die nur DNA und Schicksal vereinen, eine Geschichte über Schuldgefühle und Verlust. Vor dem ehemaligen Haus der Familie in Reinbek sind Stolpersteine für Georges-Arthurs Eltern. Das Buch ist eine Art Stolperstein für seinen Bruder. Ich fand es wichtig und gut, aber holprig und unbequem zu lesen. Von mir vier Sterne.

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