Montag, 7. März 2022

Brunnenstraße - Andrea Sawatzki

Andrea Sawatzki kannte ich bislang als Schauspielerin und als Verfasserin der eher launigen Reihe rund um „Familie Bundschuh“. Jetzt hat sie mit ihrem neuen Buch „Brunnenstraße“ ein autofiktionales Werk vorgelegt, das seine Leserschaft bewegt, berührt und oft fassungslos zurücklässt. Ein Werk, das vermutlich nur Menschen nicht vor Abscheu zurückschrecken lässt, die Ähnliches erlebt haben wie die Autorin. Sie liest das Hörbuch, auf das ich mich beziehe, selbst, was der Geschichte noch mehr Tiefgang beschert, sei es bei den eher grausamen Momenten oder bei den schönen, bei denen sie mit hörbarem Augenzwinkern auch mitreißende Freude oder kindliche Unschuld und Naivität präsentiert.

Aber von vorn.

Andrea Sawatzki wurde 1963 als uneheliches Kind einer Krankenschwester geboren, ihr Vater war ein verheirateter Journalist, der viel älter war als die Mutter. Obwohl er Affäre und Kind vor seiner von Depressionen geplagten Ehefrau geheim hielt, unterstützte er die Geliebte und allen war klar: wenn seine Frau nicht mehr lebt, ziehen sie zusammen. Und das taten sie auch, als Andrea Sawatzki acht Jahre alt war. Nach dem Suizid von Günther Sawatzkis Ehefrau zogen sie und ihre Mutter vom schwäbischen Vaihingen/Enz in die Brunnenstraße nach Bayern. Aber schnell legten sich dunkle Wolken über das neue Familienleben. Der Vater hatte keine Arbeit mehr und war verschuldet, die Mutter musste wieder als Krankenschwester arbeiten und war fortan nachts außer Haus. Und nach und nach wurde allen klar, dass die Zerstreutheit des Vaters einen Grund hat: Alzheimer. Andrea Sawatzki übernahm als Kind die Versorgung des Vaters, eine Rolle, die viele Erwachsene überfordert. Und mit Fortschreiten der Krankheit wünschte sie sich nichts sehnlicher als seinen Tod.

Dieses vehemente Hoffen auf sein baldiges Ableben mag manche Teile des Publikums abstoßen. Aber mich persönlich beeindruckt die Geduld von Andrea, die nur ab und zu gegen Ende Risse bekommt. Sie, die sich jahrelang nur gewünscht hat, von ihm geliebt zu werden, beginnt, den Vater anzuschreien, ihn sogar an einen Sessel zu fesseln. Die Mutter weigert sich, den Vater ins Heim zu geben – und erwartet von der Tochter etwas für einen so jungen Menschen schier Übermenschliches. Wenn die Mutter nachts arbeitet oder tagsüber schläft, übernimmt das Kind alle Aufgaben. Es schneidet dem Vater Haare und Fußnägel und nimmt hin, dass er es verprügelt. Überhaupt wird in dem Buch sehr viel geschlagen, vor allem Ohrfeigen bekommt Andrea als Strafe oder erzieherische Maßnahme ständig.

Das Fortschreiten der Demenz beschreibt sie sehr anschaulich, ich kann es aus eigener Erfahrung nachvollziehen. Der Altersunterschied zwischen ihr und ihrem Vater entspricht ziemlich genau dem von meiner Mutter zu deren Vater und auch charakterlich sind sich die Männer ähnlich. So mochte ihr Vater nicht, dass sie schwäbisch sprach („Das heißt nicht die wo!“) und deklinierte lateinische Vokabeln. Andrea fühlt sich von ihm nie geliebt, obwohl sie inzwischen weiß, dass er sie wohl geliebt haben muss. Die Autorin zitiert ein paar Briefe des Vaters an die Mutter, in der er so liebevoll schreibt, dass es ein Jammer ist, dass sie ihn nie so kennenlernen konnte, wie er vor der Krankheit war.

Ich rate jedem, der das Buch lesen oder hören möchte, vorher in sich zu gehen. Das Buch ist keine leichte Kost, Gewalt wie Ohrfeigen oder eine Tracht Prügel sind eher die Regel als die Ausnahme, Gewalt gegenüber Tieren kommt darin vor und eine stetige Überforderung eines Kindes, die meiner Meinung nach an Kindeswohlgefährdung grenzt und mir beim Hören Gänsehaut machte. Vielleicht war das ja in den 1970er Jahren üblich, das kann ich nicht beurteilen, dafür bin ich zu jung. Aber solche Themen können schon mal triggern. Für mich war das Hörbuch enorm bewegend und traf mich tief ins Herz. Von mir daher ganz klare fünf Sterne.

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