Mittwoch, 23. November 2022

Kerl aus Koks - Michael Brandner

 Mehr durch Zufall bin ich auf das Hörbuch zu Michaels Brandners autofiktionalem Roman „Kerl aus Koks“ gestoßen. Völlig untypisch für mich lag das vor allem am Cover, das hat direkt mein Herz erobert. Und, was soll ich sagen? Das Buch ging mir tief unter die Haut, ich weiß nicht, ob mich ein Hörbuch jemals so berührt hat, für mich war es ein absolutes Highlight.

Aber von vorn.

Den Inhalt des Buchs zusammenzufassen ist schwierig, denn er umfasst fast ein ganzes Menschenleben. Anfang der 1950er Jahre geboren, ist Paul Brenner vier Jahre alt, als er von einer unbekannten Frau von Onkel und Tante in Bayern weggeholt und ins Ruhrgebiet „verpflanzt“ wird. Für ihn fast eine Vertreibung aus dem Paradies, der Schoß der Familie in Bayern war für ihn eine Art „Schlaraffenland“, in Dortmund erwartete ihn statt Wiesen, Weiden und Weißwurst Zeche, Klappcouch in der Küche und eine Mutter, für die nur wichtig ist, dass aus ihm mal was wird. Neu in seinem Leben ist auch sein Stiefvater Helmut. Von ihm erfährt Paul, der seinen leiblichen Vater nie kennengelernt hat, Liebe und Zuneigung. Wo der Junge für seine Mutter eine einzige Enttäuschung ist (er schafft das Gymnasium nicht und wird Bauzeichner und Schreiner, später Schauspieler), ist es für Helmut nur wichtig, dass „der Junge glücklich ist“, was Paul über viele Umwege auch schafft. 

Diese vielen Umwege machen einen Großteil des Buchs aus, manchmal sind sie für den Hörer des Hörbuchs verworren, in der Hauptsache waren sie für mich aber großartig anzuhören, was auch an der angenehmen Stimme von Michael Brandner liegt. Sein Protagonist und alter Ego Paul ist vielseitig begabt und schafft es, trotz seines teilweise chaotischen Lebens (Drogen, Hausbesetzerszene, ein enorm bewegtes Liebesleben mit unzähligen Frauen, verschiedene Jobs) bei Rückschlägen immer wieder auf die Füße zu fallen. Krankheiten und Unfälle haben dazu geführt, dass er gegen Ende praktisch „auf Pump“ lebt, wäre er eine Katze hätte er alle neun Leben schon lange aufgebraucht, so oft ist er dem Tod schon von der Schippe gesprungen. Beeindruckend fand ich, dass Paul äußerst vielseitig begabt ist. Seine Begabung fürs Zeichnen führte ihn zu seinem ersten Beruf als Bauzeichner, dazu ist er ein begabter Schreiner, Musiker (sowohl als Instrumentalist als auch als Texter und Komponist) und natürlich auch Schauspieler. Er braucht mehr als 40 Lebensjahre, bis er „sesshaft“ wird und mit seiner zweiten Frau seinen „Hafen“ findet.  

Das Buch beinhaltet fünf Staffeln und umfasst den Zeitraum von 1951 bis 1997, Paul gehört also zur Generation meiner Eltern. Dennoch hat mich das Buch sehr bewegt. Ich war hin- und hergerissen, mal wollte ich Paul in den Arm nehmen (vor allem, weil ich schwierige Mutter-Kind-Beziehungen gut kenne), mal mit ihm ein Bier trinken gehen und manchmal wollte ich ihn einfach nur auf den Hinterkopf klapsen, denn seine Drogen- und Frauengeschichten fand ich manchmal verstörend. Doch trotz aller Sympathie für Paul, mein Held in der Geschichte ist sein Stiefvater Helmut. Er ist der wahre Kerl aus Koks für mich, ein Bergmann mit einem Eimer voller Bierflaschen und Herzen aus Gold, der durch eine narzisstische Ehefrau ins Unglück getrieben wurde. Während Paul es immer wieder schafft, sich aufzurappeln, verfällt Helmut zunehmend dem Alkohol und erkrankt letztendlich unheilbar an Krebs. 

Das Buch ist „frei Schnauze“ geschrieben, weder Satzbau noch Wortwahl sind übermäßig literarisch geprägt – aber authentisch und mit Tiefgang. Pauls Sprache ist ebenso ein Teil des Lokalkolorits wie die Staubwolken der Zechen und gehört ebenso zur Ruhrgebietsmentalität, die dem Buch so viel Authentizität gibt, auch wenn es eine nur „fast wahre Geschichte“ ist. Der Autor liest das Buch selbst hervorragend ein, man merkt seinen engen Bezug zur Geschichte, die er liest. Für mich war das Hörbuch ein absolutes Highlight und ich habe beim berührenden Schlusswort des Autors einige Tränen verdrückt. Von mir daher fünf Sterne.


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