Freitag, 1. Dezember 2023

Die Wahrheiten meiner Mutter - Vigdis Hjorth

Eine junge Frau bricht mit ihrer Familie, da sie sich unwohl und unverstanden fühlt. Sie bricht ihr Studium ab, zieht mit einem Mann in die USA, dem die Eltern „nicht über den Weg trauten“, wird Künstlerin und hat mit den Eltern und der jüngeren Schwester in der alten Heimat nur sporadisch Kontakt. Moment mal, schreibt Vigdis Hjorth in „Die Wahrheiten meiner Mutter“ etwa über mich? So kam es mit bei der Lektüre fast vor, selten habe ich mich in einem Buch so wiedergefunden. Ein enorm schwieriges Buch über eine völlig dysfunktionale Mutter-Kind-Beziehung, das mich nachdenklich zurücklässt.

Aber von vorn.

Vor über 30 Jahren hat Johanna ihre Familie verlassen. Sie brach ihr Jurastudium ab, verließ ihren erst kürzlich angetrauten Ehemann und folgte Marc, dem Lehrer ihres Malkurses nach Amerika. Sie heiratete ihn, bekam einen Sohn und wurde eine anerkannte Künstlerin. In der Familie wurde sie durch ihren Ausbruch zum schwarzen Schaf und zur Persona non grata, sie können weder ihre Liebes- noch ihre Lebensentscheidung verstehen. Ihren Mann halten sie für zweifelhaft und den gewählten Beruf für fragwürdig. Dass sie nicht zur Beerdigung des Vaters nach Hause kam, machte alles noch schwieriger. Mit fast 60 Jahren reist sie, inzwischen verwitwet, zurück nach Norwegen und versucht, sich der Mutter wieder anzunähern. Da diese aber jeglichen Kontakt ablehnt, muss sie sich ihr virtuell annähern. Sie rekapituliert ihr Leben, ruft sich große und kleine Ereignisse ihrer Kindheit und Jugend ins Gedächtnis, immer auf der Suche nach Antworten. Wieso wurde sie so, wie sie heute ist? Wer und vor allem, wie ist ihre Mutter wirklich? Im Endeffekt führt die Reise Johanna nicht nach Hause, sondern führt zu einer zweiten, endgültigen Abnabelung.

„Du sollst Vater und Mutter ehren“ – so steht es schon in der Bibel. Johanna sieht es anders. „Haben Eltern nicht ein Leben lang eine Verpflichtung, die das Kind nicht hat?“ Es war ja schließlich die Entscheidung der Eltern für das Kind, nicht andersherum. Der Versuch Johannas, sich der Mutter wieder nähern zu können, ist nachvollziehbar, aber schwierig. Sie stalkt sie praktisch, verfolgt sie auf Schritt und Tritt und versucht, ihren Tagesablauf zu ergründen, um sich ihr nahe zu fühlen und um sie besser verstehen zu können. Außerdem versucht sie immer wieder, sie anzurufen. Alles andere, was sie über ihre Mutter „erfährt“, ist reine Spekulation und geschieht nur vor ihrem geistigen Auge. Ihre eigene innere Zerrissenheit projiziert sie auf ihre Mutter und ihre Schwester – möglicherweise lässt sich ihre Trauer nur so verarbeiten. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen, etwas, was ihre Mutter ihrer Meinung nach nie geschafft hat. („Es gibt so viele Möglichkeiten, eine Mutter zu verlassen, über fünfzig.“ Da singt in meinem Hinterkopf Paul Simon „50 ways to leave your lover“.) Sie spinnt sich zusammen, dass ihre Mutter als Ehefrau und Mutter unglücklich war, dass sie selbst ausbrechen wollte, es aber nie gewagt hat. Wahrheit oder Wunschdenken? Die Leserschaft erfährt es nicht wirklich, das Buch besteht in der Hauptsache aus Erinnerungen, innerem Monolog und Vermutungen, vage und subjektiv.

Aber genau das macht das Buch aus, dazu die poetische Sprache, der rein deskriptive Stil, die hervorragende Übersetzung und die greifbare Sehnsucht, die die Protagonistin an den Tag legt. Sie trauert etwas hinterher, das es möglicherweise so gar nie gegeben hat, sie wünscht sich eine Zweisamkeit mit der Mutter, die es nie gab und nie geben wird. Zwei Frauen, so unterschiedlich und doch so ähnlich. So schwierig Johannas Charakter ist, so sehr habe ich mich darin wiedergefunden. Eine starke Frau und dennoch voller Selbstzweifel, jemand, der den eigenen Weg ging und sich nur eines von der Mutter wünscht: Zuneigung, Anerkennung und eine nachträgliche Absolution. Das Buch ist sicherlich nicht jedermanns Sache, für mich war es aber genau das Richtige und wird mich noch lange beschäftigen. Daher gibt es von mir fünf Sterne. 


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