Vigdis Hjorths preisgekröntem Roman „Ein falsches Wort“ ist ein Buch, das mich persönlich tief berührt. Es war für mich kein Werk, das ich einfach so lesen konnte. Ich habe es gelesen, auf mich wirken lassen, noch einmal gelesen, darauf herumgekaut und es dann noch einmal gelesen. Wie schon in „Die Wahrheiten meiner Mutter“ war der Roman psychologisch dicht, packend – und belastend, denn, sollte jemals über meine eigene Familie ein Roman verfasst werden, dann wäre er wie „Ein falsches Wort“.
Aber von vorn.
Bergljot hat schon vor über 20 Jahren mit ihrer Familie gebrochen. Das Verhältnis zu ihren Eltern war schon lange schwierig, das zu ihren drei Geschwistern ebenfalls, nur mit einer ihrer Schwestern hält sie lose Kontakt, überwiegend läuft aber alles über ihre erwachsenen Kinder, denen sie die Verwandtschaft nicht vorenthalten möchte. Die Eltern beschließen ihren Nachlass zu regeln. Dass die beiden Schwestern Asa und Astrid die Ferienhütten bekommen sollen, zwingt Bergljot dazu, mit der Familie in Kontakt zu treten, denn statt die andere beiden Kinder im Wert der Hütten finanziell zu bedenken, hat der Vater diese wohl mit geringerem Wert schätzen lassen. Bergljot und Bård fühlen sich doppelt übergangen. In der Familie ist jedoch so viel vorgefallen, dass der Erbstreit um die Hütten schnell zur Nebensache verkommt. Als dann der Vater überraschend stirbt, muss sich Bergljot entscheiden: kämpft sie um das, von dem sie glaubt, dass es ihr zusteht und bleibt zur Familie auf Distanz oder geht sie in die Offensive.
Dysfunktionale Familien sind wohl Vigdis Hjorths bevorzugtes Thema, nach „Die Wahrheiten meiner Mutter“ dreht sich auch „Ein falsches Wort“ um eine solche. Auch in diesem Buch steht viel mehr zwischen den Zeilen als darin. Das „Unaussprechliche“, was in der Familie vorgefallen ist, nimmt unterschwellig bedrückend viel Raum ein, sowohl in Bergljots Leben als auch im Buch. Es wird ein wahrer Eiertanz um das Thema herum veranstaltet, dabei geht sie selbst nach jahrelanger Therapie offen mit dem Trauma um, während der Rest der Familie es entweder ignoriert und totschweigt oder bagatellisiert. Die Mutter kann das Wort „Inzest“ nicht einmal aussprechen, ohne ihrer Tochter damit ein noch schlechteres Gefühl zu machen (sie spricht von „Inzescht“), nennt sie eine Lügnerin, weil sie die Tat/en nie angezeigt hat. Das Buch handelt von Ignoranz und Toxizität und über allem hängt eine dicke schwarze Wolke aus Schuld, Scham und Schweigen.
Wie will man ein Kindheitstrauma aufarbeiten, wenn einem nicht zugehört und einem nicht geglaubt wird? Wie soll es zu einer Versöhnung kommen, wenn beide Seiten sich in Vorwürfen verrennen und keiner zu einer Aussprache bereit ist? Wie soll es gehen, wenn beide Seiten die Schuld nur bei den anderen suchen, wenn eine Seite bei der kleinsten Konfrontation mit Sui**d droht und jeder jeden emotional zu erpressen scheint? Ein falsches Wort kann den fragilen Familienfrieden zerstören. Das Buch beschreibt Bergljots Gedankenwelt, die Leserschaft wohnt praktisch mietfrei in ihrem Kopf. Zeitsprünge und wörtliche Rede sind nicht gekennzeichnet, das Buch besteht über weite Teile aus innerem Monolog und Gedankengängen. Man erlebt aus erster Hand mit, wie die Protagonistin ihre Gedanken und Erinnerungen immer und immer wieder wälzt. Dadurch wiederholen sich manche Dinge fast wortwörtlich, was einerseits anstrengend und manchmal langweilig wirkt, aber deutlich die Zerrissen- und Zerriebenheit Bergljots zeigt. Sprachlich ist es, wie von der Autorin gewohnt, bildhaft, manchmal allerdings ein bisschen anstrengend. Vor allem konnte ich mit der Protagonistin zwar mitfühlen, sympathisch fand ich sie in ihrer teilweise ausufernden Opferrolle und ihrem Selbstmitleid nicht. Das konnte meine Lesebegeisterung jedoch nicht schmälern. Ich empfehle es jedem, der sich in einer ähnlichen Situation fühlt. Der Gedanke, damit nicht allein auf der Welt zu sein, kann trösten. Fünf Sterne von mir.
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